«Jung & Alt»-Kolumne
Die Evolution ist keine Toleranz-Party

In der «Jung & Alt»-Kolumne schreibt unser Autor Ludwig Hasler, 76, alternierend mit Samantha Zaugg, Journalistin, 26. Diese Woche erklärt Hasler, wieso Leben immer von Leben lebt.

Ludwig Hasler
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Würde man Nutztiere von ihren Aufgaben befreien, würden sie in grossem Mass verschwinden.

Würde man Nutztiere von ihren Aufgaben befreien, würden sie in grossem Mass verschwinden.

Bild: Keystone

Liebe Samantha

Ob ich Tiere esse? Als Kinder hatten wir Chüngel im Garten. Wir liebten sie, liessen sie frei laufen, putzten ihren Stall, verwöhnten sie mit den prächtigsten Rüebli – und eines Tages verspeisten wir sie mit derselben Hin­gabe. Skrupel? Null. Nur «zum Spass», wie du sagst, hielt damals selten jemand Tiere. Hühner zum Eierlegen, ja, Katzen zum Mausen, Pferde zum Schleppen, Hunde als Wachhunde, Kühe für Milch – und Fleisch. Nutztiere halt, oft ruppig behandelt. Sie seien nicht schmerzempfindlich, behaupteten viele. Das sah ich stets umgekehrt: Ohne Reflexion leiden Tiere unsäg­licher.

Im Übrigen denke ich wohl wie die meisten meines Alters. In New York sollen Kutschen verboten, die Pferde «befreit» werden? Da kann ich nur lachen: Schafft Tierschutz nun Tiere ab? Wo kämen die Pferde hin? Auf grüne Wiesen in Ohio? Zum Metzger. Nicht einmal gegen Stierkämpfe machte ich je Aufstand. So prächtig wie ein Kampfstier lebt ja kein Tier – bis zum Tod in der Arena. Es kommt doch auf die Qualität der Lebenszeit an, oder? Nicht der Tod ist der Skandal, sondern ein brutal abgewürgtes Leben: Käfighühner, Hamster im Kinderzimmer, Primaten in Tierversuchen.

Seit wir den Wohlstand als Naturrecht betrachten, wächst die Sehnsucht nach dem Paradies auf Erden. Nach einer Existenz ohne Schuld. Nach Versöhnung von Kultur und Natur: Alle leben friedlich miteinander – bloss: wovon? Fragte ich schon die Lehrerin, als die Geschichte von Noahs Arche dran kam: Wovon lebten sie eigentlich? Was bekamen die Löwen? Gemüse? Woher denn? Evolution ist keine Toleranz-Party. Leben lebt vom Leben. Jedenfalls solange kein interstellares Catering liefert. Ich glaube, die alten Griechen sahen das redlicher: Wenn ich existiere, bezahlen stets andere dafür.

Die Frage ist wie. Der Hinweis auf die Evolution rechtfertigt nicht jede Ungeheuerlichkeit. Nicht rücksichtslose Fleischindustrie. Nicht die Brutalität des Schlachtens. Das rechtfertigt keine Evolution. Obwohl – im Prinzip – gilt: Beim Essen hat immer jemand das Nachsehen. Wer Beeren pflückt, nimmt sie den Vögeln weg. Wer einen Acker anlegt, zerstört den Lebensraum Tausender Tiere. Leben ist nie gratis. Einer bezahlt stets die Rechnung. Ich wünsche mir, die Rechnung beim Fleisch falle hoch aus. Nur so wäre mein Wunsch realistisch, dass Tiere vor ihrem Tod prächtig leben.

Neuerdings werden meine Ansichten etwas poröser. Ich lese vom Steak aus dem Labor, vom Fleisch, das in der Petrischale wächst, nicht im Stall. Ohne Einpferchen, ohne Abschlachten. Sogar ohne CO2.

Versprichst du dir davon auch etwas? Denkst du, Technik holt uns aus den gröbsten Problemen heraus? Oder müssen wir unseren Lebensstil ändern?

Ludwig

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