In der «Jung & Alt»-Kolumne schreibt unser Autor Ludwig Hasler, 78, alternierend mit Samantha Zaugg, Journalistin, 28. Diese Woche schreibt Zaugg über Druck an der falschen Stelle.
Lieber Ludwig
Auf Druck hilft Gegendruck, sagst du. Ich bin skeptisch. Klar, unter Druck können tolle Dinge entstehen. Abgabefristen oder Wettkampfsituationen setzen oft ungeahntes Potenzial frei. Und unter Druck entstehen ja auch Diamanten. Aber dazu müssen spezifische Bedingungen gegeben sein: Die mineralische Zusammensetzung des Gesteins muss stimmen, der Druck, die Temperatur, konstant etwa tausend Grad Celsius und dazu auch noch ein paar Millionen Jahre Zeit.
Ich weiss nicht, wie das bei dir so aussieht. Aber diese Situation würde ich nicht als Metapher für mein Leben wählen. Bei mir wär’s mehr so ein voller Rucksack und irgendwo drin hat’s ein Joghurt. Und Joghurt und Rucksack und Druck gibt keine Diamanten, sondern einfach eine Sauerei.
Die meisten Sachen verhalten sich unter Druck wie ein Joghurt, sie gehen einfach kaputt. Als Beispiel für unkontrollierten Druck will ich einen Schwank aus meiner Schulzeit erzählen. In der Kantonsschule war ich furchtbar schlecht in Algebra. Des Öfteren hatte ich eine aufgerundete zwei im Zeugnis, mehr als zweieinhalb habe ich nie geschafft. Und das trotz vier Jahren Nachhilfe und Intensivkursen in den Ferien. Ich habe in kein Fach so viel Zeit investiert und war in keinem so schlecht.
Das kann doch nicht so schwer sein, alle anderen können es ja auch, du musst dich nur mehr anstrengen, habe ich damals gedacht. Und hab mir selbst am meisten Druck gemacht, bis ich vor Prüfungen nicht mehr geschlafen habe, nur um mich in meinem Scheitern immer wieder zu bestätigen. Es war furchtbar.
Doch eines Tages ist es besser geworden. Und zwar an dem Tag, als ich mir eingestanden habe, dass ich wirklich niemals Algebra verstehen werde. Und dass es mir auch egal ist. Resignation war mein Schlüssel zum Glück. Meinen Nachhilfelehrer habe ich eingeweiht. Er war froh, denn auch er hatte nach fast vier Jahren genug. Wir haben niemandem etwas gesagt und uns statt auf Algebra auf spanische Literatur konzentriert. Bei der Maturprüfung habe ich nicht mal versucht, eine Aufgabe zu lösen. Dafür gab es Note eins. Aber es war eine entspannte und selbstbestimmte eins.
Die Moral von der Geschichte: Unkontrollierter Druck ist nicht nur kontraproduktiv, sondern führt auch dazu, dass wir uns auf unsere Defizite konzentrieren und gar nicht mehr sehen, was wir eigentlich können. Dennoch hält sich die Erzählung hartnäckig, dass man nur genug wollen muss. Druck wird als Universallösung dargestellt. Dabei ist es viel wichtiger zu lernen, welcher Druck produktiv ist und welcher uns nur lähmt. Um sich dann in einem zweiten Schritt selbst vom unnötigen Druck zu befreien.
Samantha