Hände auflegen: Humbug oder Heilkraft?

Hände auflegen, Berührungen, Empathie: Was viele Menschen als wohltuend und heilend empfinden, ist in der klassischen Medizin kein Thema. Passen Spiritualität und Medizin überhaupt zusammen?

Pirmin Bossart
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«Es passiert etwas»: Yvonne Lehmann beim Handauflegen in der Lukaskirche in Luzern. (Bild: Corinne Glanzmann (Dezember 2016).)

«Es passiert etwas»: Yvonne Lehmann beim Handauflegen in der Lukaskirche in Luzern. (Bild: Corinne Glanzmann (Dezember 2016).)

Jeden Freitag von 17 bis 19 Uhr sind Yvonne Lehmann und ihr Team in der Lukaskirche in Luzern anwesend, um Menschen eine besondere Dienstleistung anzubieten: Handauflegen. «Ein Gespräch gehört immer dazu, mit einigen länger, mit anderen kürzer. Dann legen wir die Hände auf, wenn sie das wollen. Aber eigentlich wollen das alle.»

Heutigen Rationalmenschen mag es beim Gedanken daran schaudern oder ihm ein mitleidiges Lächeln entlocken. Nimm doch einfach ein Medikament, würde er sagen, dann geht es dir besser. Oder auch: Was soll dieser Humbug?

Was den einen Humbug ist, ist den andern Trost, Linderung, Wohlbefinden. «Zu uns kommen viele Leute, die ein körperliches oder psychisches Leiden haben und irgendwo in Behandlung sind. Aber anscheinend brauchen sie noch etwas mehr.» Hinter diesem «mehr» stecke vielleicht eine Sehnsucht, sagt Yvonne Lehmann. Eine Sehnsucht nach dem Göttlichen oder wie man das formulieren wolle. Da habe jede und jeder einen eigenen Background. «Ich kann es auch nicht erklären, aber vielen Menschen hilft es im alltäglichen Leben.»

Mit dem Handauflegen gehe es nicht darum, «Wunderheilungen» zu vollbringen, sagt die Diakonin, die schon vor 30 Jahren mit Segnungsfeiern diesen spirituellen Weg in der Kirche geöffnet hat. «Wir begleiten und stärken die Leute in der Situation, in der sie sind. Es ist eine Ergänzung zu den medizinischen oder psychotherapeutischen Behandlungen. Vielen gibt unsere Zuwendung wieder einige Zeit Kraft. Aber wir vollbringen in diesem Sinne keine Wunder.»

Dass etwas passiere, sei aber augenscheinlich. «Manchmal spüre ich es schon während des Handauflegens, wie jemand ruhiger wird, herunterfährt. Und wenn sie gehen, sieht man es am Gesichtsausdruck, dass sich etwas gelöst hat, dass sie von einer neuen Energie aufgetankt sind.»

Berührungen sind heilend

Der Mediziner und Philosoph Piet van Spijk hat keine Mühe mit der spirituellen Arbeit, wie sie Yvonne Lehmann anbietet. «Berührungen sind die Grundform menschlicher Zuwendung. Das wird nach meinem Eindruck in der Schulmedizin grundsätzlich vernachlässigt. Dabei ist es wahrscheinlich die Grundlage überhaupt, auf der sich verschiedene Heilformen spiritueller Natur aufbauen können.» Aber es sei nicht besagt, dass Berührung in jedem Einzelfall helfe.

Der klassisch ausgebildete Schulmediziner van Spijk ist seit dreieinhalb Jahren Geschäftsleiter des Medicums Wesemlin: ein medizinisches Zentrum mit rund 50 Ärzten und Ärztinnen, Therapeuten und Praxisassistentinnen. Das Zentrum bietet ein breites Spektrum von Orthopädie und Handchirurgie über Urologie und Hausarztmedizin bis zu Physiotherapie, Psychotherapie oder Kunsttherapie. Moderne schulmedizinische Verfahren werden mit komplementärmedizinischen, naturheilkundlichen Konzepten verbunden. Das medizinische Ambulatorium ist in den ehemaligen Räumen des Klosters Wesemlin eingemietet.

«Die integrative Medizin wird bei uns gelebt», sagt van Spijk. «Die Wege sind kurz, das geht alles ohne Formalitäten.» Nun öffnet das Medicum Wesemlin auch eine Tür zur religiös-spirituellen Dimension in der Medizin. An der Veranstaltung «Handauflegen als Medizin?» werden sich diverse Referenten dar­über äussern, wie weit spirituelle Anliegen und Ressourcen eines Patienten in die Behandlung einbezogen werden können (siehe Hinweis).

Hört sich van Spijk in seinem beruflichen Freundeskreis um, gibt es die Stimmen, die klar für eine Trennung der beiden Bereiche Religion/Spiritualität und Medizin plädieren. Vor einem Jahr wollte der Mediziner wissen, wie das die Quartierbevölkerung sieht. Auf einen Artikel in der Quartierzeitung hin erhielt er ausschliesslich positive Rückmeldungen. Obwohl sich der Kapuzinerorden traditionellerweise nie in der Krankenpflege betätigt hat, würde auch das Kloster Wesemlin als religiös-spirituelle Institution eine solche Öffnung begrüssen.

«Wir haben keine konkrete Absicht, hier die spirituelle Medizin einzuführen, aber ich finde trotzdem, dass wir das jetzt mal zum Thema machen», legt van Spijk klar. Er hat selber eine Zusatzausbildung in der traditionellen chinesischen Medizin gemacht und sich mit philippinischen Geistheilern beschäftigt.

Ist es nur der Placebo-Effekt?

«Das Thema interessiert mich mehr von einem theoretischen Standpunkt aus», wie er anfügt. Nämlich: «Was unterscheidet spirituelle Medizin von Geistheilern, Voodoo oder anderen Praktiken in aussereuropäischen Kulturen? Was ist der Unterschied zu Placebo-Behandlungen? Was liegt diesen Phänomenen zu Grunde? Gibt es Gemeinsames?

Sogenannte paranormale Phänomene seien in der Medizin sehr wichtig, ist er überzeugt. Für ihn gehört auch der Placebo-Effekt in diese Kategorie. Der spiele in der Medizin eine grosse Rolle, obwohl niemand ihn erklären könne. «Er wird anerkannt und ist ein zentrales Element, das in allen schulmedizinischen Forschungen enthalten ist.» Es sei an der Zeit, dass wir diese Phänomene ernster nehmen, über sie nachdenken und sie zu erforschen suchen.

Die Glaubwürdigkeit von spirituellen Behandlungsmethoden scheitert oft dar­an, dass sie nicht messbar sind – zumindest nicht mit den üblichen Kriterien. Van Spijk sieht das nicht so eng. Man könne diese Phänomene zwar nicht messen oder in mathematische Formeln zwingen, aber man könne ihre Wirkung in einem breiter gefassten wissenschaftlichen Verständnis sehr wohl erforschen.

Erforschen heisse, genau zu beobachten, das Beobachtete zu reflektieren und sich darüber mit andern auszutauschen. In dieser Beziehung sei Sigmund Freud für ihn ein Vorbild. «Freud hat auf diese Weise Phänomene entdeckt, die sich zwar schlecht messen lassen, sich nichtsdestotrotz als wichtig erwiesen haben und die Grundlage für grosse therapeutische Fortschritte abgaben.»

Auch in der naturwissenschaftlich orientierten Schulmedizin gäbe es Antworten, die nicht scharf geschnitten seien oder nur «pseudoscharf», wie van Spijk sagt. «Wir haben nicht selten präzise Daten, die sich aus Studien mit Tausenden von Patienten ergeben haben. Nur: Im konkreten Einzelfall nützen solche allgemeinen Daten oft wenig oder nichts.» Das Leben, sagt van Spijk, sei generell nicht scharf geschnitten. «Und die Medizin hat mit Leben zu tun.»

Das erwachte Interesse an spiritueller Medizin hängt auch mit den Veränderungen der Gesellschaft zusammen. Das Leiden der Menschen in der westlichen Welt habe sich in den letzten 20 bis 30 Jahren verlagert, stellt van Spijk fest. «Heute leiden die Menschen zunehmend an Befindlichkeitsstörungen, Stress, Erschöpfung, Depressionen oder Schmerzen, die sich keiner organischen Läsion zuordnen lassen.»

Das Gottvertrauen ist weg

Gleichzeitig seien die Menschen ängstlicher geworden, konsultierten jedes Symptom im Internet und stilisierten es zu einer lebensbedrohenden Krankheit empor. «Das Gottvertrauen, das die Menschen früher hatten, ist weg: dieses Vertrauen, dass es schon gut kommt, und wenn nicht, es dann halt so zu akzeptieren ist.» Dieses Vakuum wird zum Teil gefüllt mit der Sehnsucht nach dem Göttlichen oder dem Unerklärlichen, einer Sehnsucht, die von Methoden wie dem Handauflegen gestillt wird und die in der Schulmedizin kaum bedient wird.

Unbestritten ist, dass das Befinden des Arztes und des Patienten sowie die gegenseitige «Chemie» einen Heilungsprozess beeinflussen. «Die persönliche Begegnung, das Sich-Zeit-Nehmen und das Vertrauen sind wesentliche Faktoren. All das ist eigentlich bekannt, aber zwischen den Wegen und Methoden der spirituellen Medizin und der Schulmedizin besteht ein Spannungsfeld. Das ist auch der Grund, warum wir damit in unserer Praxis sorgfältig und seriös vorgehen wollen. Im Moment gilt: Wir reden darüber und tragen es als ein Diskussionsthema in die Öffentlichkeit.»

Plädoyer für die empathische Pflege

Direkt im medizinisch-pflegerischen Alltag spielen sich die spirituellen Erfahrungen von Marcelle Peter ab. Sie arbeitet seit über 40 Jahren als Pflegefachfrau. Sie dockt dort an, wo auch Yvonne Lehmann arbeitet und van Spijk ein Grundelement der Heilung sieht: bei der Berührung. «Es gibt genug Situationen in der alltäglichen Arbeit, in denen der Patient damit getröstet und beruhigt wird oder Schmerzen gelindert werden können.» Aussagen wie «Halten Sie mich!» oder «Das tut gut» hört sie jeden Tag.

«Wir müssen uns in der Pflege wieder mehr dessen bewusst werden, dass bei der empathischen Berührung eine heilende Wirkung passiert. Sei es durch Eincremen, Massieren, Streicheln oder Anbringen eines Verbandes.» Leider sei der heutige Pflegealltag geprägt durch Bürokratie, Mechanik, Technik. «Die Begegnung von Mensch zu Mensch ist ein Manko. Sie darf nicht verloren gehen.»

Marcelle Peter hat sich in ihrem Beruf die Grundfrage schon vor vielen Jahren gestellt: «Sehe ich den Menschen als seelisches Wesen mit einem inneren Weg, oder decke ich nur vordergründige Ansprüche wie trocken, sauber und satt ab?» Für die Pflegefachfrau hat jede Handlung, «die mit dem Herzen passiert», eine heilende Wirkung. «Ich erlebe das an den Patienten. Sie werden zufriedener, es tut ihnen gut, und sie haben einen Anspruch darauf. Auch den Pflegenden selber tut diese Menschlichkeit gut. Es ist viel befriedigender, mit dem Herzen zu arbeiten, als einfach mechanisch die Dinge zu verrichten, die getan werden müssen, damit es zumindest oberflächlich funktioniert.

Montag, 29. Oktober, 19 Uhr: «Handauflegen als Medizin?» Ort: Medicum Wesemlin, Landschau­strasse 2, Luzern. Unter anderem referieren die im Text erwähnten Personen. Mehr Infos: medicum-wesemlin.ch/news/