Ein prachtvoller Bildband über den Adel der Schweizer Schlösser wird zu einer Geschichte der Schweiz und ihres Reichtums.
Wer auch immer über das Buch «Wein Schlösser Adel» erzählen will, weiss erst nicht, wo und vor allem nicht wie er beginnen soll. Wer aber den monumentalen Band aufschlägt, wird sogleich zwei Fragen stellen: «Ist das tatsächlich ein Buch über Schweizer und Schweizerinnen?» Und dann gleich nachhaken: «Haben diese Familien wirklich die Schlosspforten geöffnet, die Autoren und Fotografen ins Wohnzimmer gebeten, sie ins Schlafzimmer blicken lassen?»
Schon allein, weil beide Fragen mit «Ja» beantwortet werden können, ist den zwei ehemaligen Chefredaktoren Markus Gisler und Andreas Z’Graggen ein aussergewöhnliches Buch gelungen. Aber noch nicht andeutungsweise ist gesagt, um was es da geht – um den Schweizer Adel, gewiss. Aber gibt es den überhaupt noch?
Bis 1798 war er mächtig, regierte die einzelnen Orte. Danach mussten die Familien mit den gleichen Rechten wie alle anderen zurechtkommen, durften aber in ihren Schlössern, Palais, Burgen und Herrenhäusern bleiben. Wo sie einst wohnten, residieren viele ihrer Nachfahren noch heute. Und Macht haben einzelne immer noch.
Z’Graggen hatte schon 2018 über den Schweizer Adel ein Buch geschrieben. Nun aber verbanden die zwei das Thema mit dem Wein, wollte Familien in ihren Herrschaftshäusern besuchen, wo gekeltert wird.
Das Duo Z’Graggen/Gisler zog mutig los, besuchte die Besitzer und Besitzerinnen, führte mit ihnen lange Gespräche, lernte ihre Geschichte und ihre Weine kennen, kam wieder zurück, fotografierte die Schlösser mitsamt ihren Bewohnern. Entstanden ist nun eine bilderreiche Familiengeschichte der von Meyenburgs, de Mestrals, der Zen Ruffinens und wie sie alle heissen, die da zwischen Genfer- und Bodensee wohnen.
Wer die fast vierzig Geschichten liest, wird nicht nur auf bewegende Schicksale stossen, sondern eben auch viel über die Schweizer Geschichte lernen. Hört man Autor und Fotograf Markus Gisler über «seine» Familien reden, kommt man aus dem Staunen nicht heraus – und er nicht aus dem Mitteilen. Denn keine Geschichte lässt sich ohne Wendungen und Drehungen erzählen. Es ist wie der Kopf der Medusa: Meint der Leser, dass ein Erzählstrang fertig erzählt ist, öffnen sich zwei neue. Kaum ist eine Familie von Lucca als Glaubensflüchtlinge nach Genf gezogen, funkt jemand aus Paris dazwischen, und es öffnet sich eine wirtschaftliche Goldgrube, deren Spuren noch heute zu erkennen sind.
Viele der Adligen waren erfolgreiche Geschäftsleute. Gisler/Z’Graggen geben somit auch einen Einblick in eine Schweizer Wirtschaftsgeschichte, die jeden reinzieht, da sie so persönlich ist.
Und apropos persönlich: Die ehelichen Verbindungen der Adelshäuser zeigen, dass die Heirat ein Mittel war, um Macht und Reichtum zu bewahren, sie zu vergrössern oder neue zu erreichen. Die Politik war das zweite wichtige Feld dieser Familien, das dritte war der Glauben beziehungsweise der Einfluss in der Kirche. Nicht jede Familie hatte die Hand am Rad der Zeit, aber jede Geschichte ihre Besonderheit und Schönheit. Bisweilen reicht die Macht von einst durchaus bis in die Gegenwart, etwa wenn von Thierry Grosjean die Rede ist.
Wir sind in Auvernier am schönen Neuenburgersee, im mächtigen Château d’Auvernier. Grosjeans Vater heiratete Christiane de Montmollin und wurde Teil der wechselhaften Schlossgeschichte. Sie war Tochter des Schlossbesitzers Aloys de Montmollin, der den Weinbau nach dem Ersten Weltkrieg vorantrieb. Heute gehört der Betrieb mit 400 000 Flaschen pro Jahr zu den grössten Weinproduzenten im Kanton.
Thierry Grosjean sass im Regierungsrat, ist nun Präsident der Migros Genossenschaft Neuchâtel/Fribourg. Einst hätte die Schweiz aufgeschrien, wenn der «König des Oeil de Perdrix» in der Migros etwas zu sagen gehabt hätte…
Wer das Buch aus Interesse am Wein liest, wird die Seiten über die Bündner Familien – die von Salis, von Planta, von Sprecher oder von Tscharner – genaustens studieren und nebenbei viel vom Krieg erfahren.
Nicht überall steht der «Adlige» im Weinberg. Ein Hügel in der Nähe der Burg Brunegg der illustren Familie von Salis bewirtschaftet der Önologe Mathias Brunner mit seiner Frau Christina, pflanzt dort Silvaner, Riesling und Zweigelt an: Das Duo besitzt die höchst erfolgreiche Weinmanufaktur in Hitzkirch. Und ja: Um die Geschichte zu diesem Hang erzählen zu können, müsste Medusa einen weiteren Kopf hergeben.
Andreas Z’Graggen/Markus Gisler: Wein, Schlösser, Adel. Weber Verlag, 89 Franken.