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Riccardo Chailly hat das Lucerne Festival mit Strawinsky eröffnet – und einer Sternstunde.
Er ist so etwas wie der Mister Cool der Klassik: Igor Strawinsky, der skandalumwitterte Komponist, der gepflegten Viervierteltakt links liegen liess zugunsten archaischer Motorik, den Konzertsaal zugunsten der Ballettbühne und mit seiner Musik schon mal dafür sorgte, dass sich das Publikum im Saal prügelte. Das trug ihm den Ruf unbestrittener Coolness ein. Aber auch das Vorurteil, eher in der Liga der rhythmischen Sportgymnastik zu spielen als in jener von Mozart und Beethoven.
An Strawinsky scheiden sich also die Geister – und auch die Dirigenten, wie der Eröffnungsabend des Lucerne Festivals zeigte: Das Orchester setzt ein. Und dann das: Statt motorischem Drive hört man scharfe Konturen; statt rhythmischem Let it go Akzente gegen das Metrum; statt strahlendem Dur reibende Dissonanzen. Und doch: nicht allein das. Denn hier ist ein dirigierender Alchemist am Werk, dem mit seinem Orchester in Sachen Strawinsky die Quadratur des Kreises gelingt.
Es ist Riccardo Chailly, Chefdirigent des Lucerne Festival Orchestra – wobei man sich den Zusatz «Nachfolger» von Claudio Abbado verbeissen muss. Noch immer. Obwohl der Mailänder heuer bereits das dritte Eröffnungskonzert mit «seinem» Lucerne Festival Orchestra gibt. Doch, wer Lucerne Festival Orchestra sagt, wird immer auch Abbado denken. Damit muss jeder Dirigent leben.
Zum ersten Mal allerdings hat man jetzt am Lucerne Festival den Eindruck, dass Chailly als Chailly ohne Wenn und Aber musiziert. Dies, nachdem sein Antrittskonzert vor zwei Jahren in Abbados Mahler-Tradition stand, die letztjährige Eröffnung mit Richard Strauss quasi den Anti-Mahler gab. Der Strawinsky nun ist Chailly pur. «Dumbarton Oaks» (1937) heisst das Stück, mit dem der Dirigent und das Lucerne Festival Orchestra vier Wochen internationale, sinfonische Höhenflüge einläuten. Ein neoklassisches Werk, bei dem man tatsächlich auf den Selbstläufer Motorik setzen kann, auf dass die Musik hübsch vor sich hin – und an einem vorbei – sprudle. Doch Chailly und das Lucerne Festival Orchestra mischen metrische Nonchalance mit unerhörten Akzenten. Aus der rhythmischen Sportgymnastik wird so unversehens eine rhythmische Kopfgymnastik, so vielschichtig ist Strawinskys Musik in dieser Luzerner Version.
In Sachen Opulenz war das erst das Warm-up. Denn da ist auch noch die rund einstündige Ballett-Musik «Feuervogel» (1909), deren Titelfigur an diesem Abend in einer magischeren Form erscheint, als es in sämtlichen, reich illustrierten Bilderbüchern je möglich wäre. Das Ponticello der Geigen beisst förmlich in den Augen, und der Flügelschlag des Feuervogels erfasst das ganze KKL. Alles ist durchpulst von Farben, Konturen und dem Charakter der Figuren. Und doch wird diese Ballett-Musik zusammengehalten vom zarten Silberfaden der Eleganz. Wie eben auf einer Ballettbühne selbst Kampf und Tod aufgelöst sind in die Ästhetik des Tanzes.
Im Vorfeld des Sommerfestivals hatte Intendant Michael Haefliger geschrieben, er wünsche uns allen, dass wir am Lucerne Festival das Staunen wieder lernen. Und wer weiss, vielleicht haben Intendanten pro Festival gleich drei Wünsche offen. Jedenfalls wurde an diesem Eröffnungsabend aus dem A und O eines gelungenen Konzertabends (das man hier ohnehin erwartete) ein «Ah» und «Oh!». Und das gleich dreimal.
Denn das dritte «Oh!» bereits im Vorfeld für sich gepachtet hatte Lang Lang, der absolute Superstar der klassischen Musik – allerdings seit geraumer Zeit ein Superstar mit einem Problem. Rund ein Jahr hatte der chinesische Pianist wegen Sehnenscheidenentzündung zwangspausieren müssen. An der Eröffnung des Lucerne Festivals feierte er nun sein Europa-Comeback. Wobei «feiern» der falsche Ausdruck für Lang Langs Auftritt ist. Vom brillanten Tastenlöwen am Flügel war diesmal nämlich nichts zu spüren. Und ohnehin vergass man augenblicklich alles, was mit Tasten zu tun hatte, als die Melodie aus Mozarts tragisch getöntem c-Moll- Klavierkonzert KV 491 einsetzte. Sie war Musik pur. Bestehend aus wunderschönen Tönen, geflochten zu ebenso wunderbaren Phrasen – nichts übertrieben, nichts exaltiert. Im Gegenteil. So innig, leise, dass man nicht umhinkam, zu denken: Wie viel von Lang Langs persönlichem Leben und Leiden steckt da mit drin? Und wenn ja: in welch wunderbarer Form! Gemeinhin sagt man, Perfektion sei für den Menschen unerreichbar. Irrtum, flüsterte einem die Musik Lang Langs an diesem Abend zu.