Interview
Lukas Hartmann über seinen neuen Roman: «Man muss das Mögliche möglich machen»

Dieses Jahr wird Lukas Hartmann 75. In seinem neuen Roman «Der Sänger» schreibt er über den weltberühmten jüdischen Tenor Joseph Schmidt, der im Zweiten Weltkrieg in einem Schweizer Auffanglager ums Leben kam.

Anne-Sophie Scholl
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«Zentral ist für mich das Kreieren: Wenn ich das Gefühl habe, besser kann ich es nicht mehr machen»: Lukas Hartmann.

«Zentral ist für mich das Kreieren: Wenn ich das Gefühl habe, besser kann ich es nicht mehr machen»: Lukas Hartmann.

Severin Bigler

Nein, er lässt sich nicht gerne fotografieren. «Braucht es wirklich diesen Lichtschirm?», fragt er den Fotografen. Und ein paar Mal versucht er, dem Geknipse mit einem entschiedenen «So!» ein Ende zu setzen. Aber Lukas Hartmann sagt es sehr liebenswürdig und macht brav mit, galant hat er auch gleich selbst an der Réception gefragt, ob man fotografieren dürfe. Und in so viel Liebenswürdigkeit gepackt, merkt man kaum, dass der Autor sehr klare Vorstellungen davon hat, wo und wie er in Szene gesetzt werden möchte. Er hat gut gewählt: Das ehrwürdige Berner Hotel Schweizerhof aus dem frühen 20. Jahrhundert, das heute in arabischen Händen liegt, passt gut zum Glanz und Glamour, den die Figur seines neuen Romans gekannt hat.

Viele heutige Menschen dürften den Protagonisten Ihres neuen Romans «Der Sänger» nicht mehr kennen. Wer war Joseph Schmidt?

Lukas Hartmann: Zu seiner Zeit, also bis in die frühen Dreissigerjahre, war er wahrscheinlich der bekannteste Sänger im ganzen deutschsprachigen Raum.

Auch in der Schweiz?

Unbedingt. Seine Konzerte waren ausverkauft. Joseph Schmidt war gebürtiger Jude aus der Bukowina in der heutigen Ukraine. Seine Eltern kamen eher aus ärmeren Kreisen, aber er wurde gefördert. Wirklich bekannt wurde er mit den Rundfunkaufnahmen und Übertragungen über Mittelwelle und mit den ersten Schellack-Platten. Er hatte eine enorme Berühmtheit erreicht, als 1933 die Nazis in Deutschland die Herrschaft übernahmen und alle Juden im Kulturleben in die Emigration trieben. Aus dem höchsten Ruhm heraus flüchtete er über Österreich, Holland und Belgien nach Vichy-Frankreich, das noch befreite Zone war, und zuletzt schwarz in die Schweiz.

Was hat Sie an dieser Figur interessiert?

Sein Schicksal von einer ärmlichen Kindheit bis zu grossem Glanz und Ruhm – er machte ja auch in sehr erfolgreichen Filmen wie «Ein Lied geht um die Welt» mit. Und dann der enorme Abstieg, bei dem er versuchte, etwas von seiner Selbstsicherheit zu behalten, wenigstens das Gefühl zu haben, er finde irgendwo noch Platz. Aber auch seine Stimme. Als ich sie zum ersten Mal gehört habe, hat sie mich sehr angezogen.

Wann war das?

Wahrscheinlich vor zehn Jahren. Aber ich wusste schon lange, dass ein berühmter Sänger in der Schweiz sehr früh gestorben ist, weil man ihn vernachlässigt hat – Joseph Schmidt war 38. Ich begann zu recherchieren, und je mehr ich herausfand, umso klarer wurde mir: Das ist eine Figur, die ich auf der Flucht begleiten möchte. Er war ja nicht der einzige Kulturschaffende, der in die Schweiz geflohen ist, aber einer der berühmtesten.

Ihr Roman ist eine Fluchtgeschichte, aber auch ein Künstlerroman. Einen solchen haben Sie bisher noch nicht geschrieben.

Das ist interessant: Mein nächstes Buch, an dem ich bereits arbeite, ist ein Künstlerroman.

Severin Bigler

Wie weit ist dieses Buch ein Künstlerroman?

Das ist es auch. Schmidts Künstlerexistenz und wie er Leute bezaubern konnte, spielt eine grosse Rolle. Sein berühmtestes Stück, «Ein Lied geht um die Welt», haben bis heute auf Youtube 650 000 Leute angeklickt — das ist enorm! Im Gedächtnis der Generation, die in den 1920er- und 1930er-Jahren geboren wurde, ist er stark verwurzelt, vor allem bei den Frauen. An einer Lesung in einem Seniorenzentrum habe ich von Joseph Schmidt erzählt, und sofort stand eine der Frauen auf und fing an zu singen — (singt) Ein Lie-ied geht um die We-elt, ein Lie-ied ... und mindestens ein Dutzend stimmten mit ein. Sie kannten das alle.

Im Nachhinein kann man sagen: Wie feige war das eigentlich?

Wie sehen Sie die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft?

Es gab immer Künstlerinnen und Künstler, die mit Protest auf politische Bewegungen reagiert haben. Denen gehört meine Sympathie. Diejenigen, die sich nur dem Bel Canto ergeben haben oder dem schönen Gedicht, können mich beeindrucken, aber sie erreichen mich weniger. Auch heute ist es eine zwiespältige Frage, wie offen sich Künstler äussern können, ohne dass es Repressalien gibt von ihrem Regime. Das weiss ich von einem syrischen Dramaturgen, mit dem ich eine Zeit lang in Kontakt stand, aber es gilt auch für Russen, die sich hier offensiv gegen Putin äussern wollen. Und arabische Herrscher können immer wieder mit Restriktionen bei Öllieferungen oder was auch immer drohen. Auch die Verantwortlichen in den politischen Ämtern müssen sehr abwägen: Was ist möglich, was kann man tun?

Joseph Schmidt hat ja keine politische Kunst gemacht.

Allein, dass ein Jude Ovationen bekam, war unerwünscht. 1942 stand Deutschland auf dem Höhepunkt seiner Macht, und die Schweizer Politik hat damals sehr Rücksicht genommen auf mögliche Repressalien von Deutschland. Damals musste man sich fragen: Wollen wir die provozieren? Im Nachhinein kann man sagen: Wie feige war das eigentlich? Ich selbst neigte früher dazu, das so zu werten. Aber es gab auch andere wie den protestantischen Theologen und Professor Karl Barth, die klar Stellung bezogen haben zugunsten von Flüchtlingen. Das imponiert mir.

Was halten Sie von der Unterscheidung zwischen ernsthafter Kunst und Kunst, die Massen anspricht?

Für mich sind die Grenzen fliessend. Joseph Schmidt hat sie sehr bewusst überschritten – sonst hätte er ja nicht ein solches Echo gehabt. Aber er hat in den Schlager und in seine Filme ebenso viel Substanz eingebracht, wie wenn er Arien von Donizetti, Bellini oder Mozart gesungen hat. Es war dieselbe Ernsthaftigkeit und Suche nach Perfektion. Mir kommt es darauf an, wie mich ein Musiker oder eine Musikerin berührt. Ist Ihnen das wichtig?

Severin Bigler

Mich interessiert, wie Schriftsteller zu dieser Diskussion stehen. Jedes Ihrer Bücher kommt auf die Bestsellerlisten. Wie sehen Sie Ihr eigenes Schreiben?

Ich will erzählen. Ich wähle Geschichten, von denen ich das Gefühl habe, dass sie sich lohnen, und ich will sie so gut, so dicht und so präzise wie möglich erzählen. Ich will keine formalen Experimente machen, das achte ich durchaus, aber es ist nicht mein Ding. Ich habe jahrzehntelang daran gearbeitet, eine Erzählart zu finden, die zu mir passt. Von der ich finde, das kann ich, und das kann ich auch perfektionieren, es ist mein schriftstellerisches Lebensthema.

Und was bedeutet Ihnen Erfolg?

Erfolg freut mich, wenn ich merke, dass Leute von dem, was ich schreibe, angeregt werden. Wenn sie Anteil nehmen an einem Schicksal, vielleicht auch beginnen, sich Fragen zu stellen. Oder wenn ich Leute zum Lesen hinführen kann. Ich möchte bewegen mit meinem Schreiben. Aber ausschlaggebend ist die Freude am Kreieren, wenn ich den Stoff habe und ihn so erzähle, dass ich das Gefühl habe, besser kann ich es jetzt nicht mehr.

Ihre historischen Romane sprechen oft über die heutige Zeit. Was kann man aus Joseph Schmidts Geschichte herauslesen?

Eine Geschichte kann einfach eine innere, emotionale Bedeutung haben, wie Menschen mit Menschen umgehen, das ist bei jedem Roman so. In der Schweiz gab es schon damals eine starke Haltung gegenüber Eindringlingen, eine pauschale Abneigung, wie heute, wo man sagt: auf keinen Fall mehr arabische junge Männer! Dabei gibt es unter ihnen viele, die absolut friedlich sind.

Und auf der politischen Ebene?

1942 kam der Erlass vom Bundesrat, dass man jüdischen Flüchtlingen nicht mehr einfach a priori Asyl gewährt. Man wies sie zurück, wenn sie keine individuelle Verfolgung nachweisen konnten. Das schaut man heute als Unrecht an. Ich auch. Aber ich habe meine Haltung etwas geändert, nachdem ich die Protokolle der damaligen Flüchtlingspolitik gelesen hatte. Die Leute haben es sich nicht einfach gemacht. Sie haben versucht, abzuwägen. Pauschalisierungen sind immer schwierig. Auch Pauschalisierungen wie: Wir nehmen jetzt alle auf, die verfolgt sind. Die Frage ist: Wen nehmen wir? Und wie viele? Darum wird es immer einen Streit geben, und den muss man auch austragen. Man muss versuchen, eine Haltung zu finden, zu der man stehen kann.

Aus der Erfahrung von vielen Jahren zu schreiben, ist eine schöne Frucht vom Alter.

Wie gut handhaben wir das heute?

Wir machen es letztlich gar nicht so schlecht. Heute gibt es immer wieder den Versuch von mehr Grossherzigkeit, auch in den Jahren, als meine Frau Justizministerin war. Es war immer wieder der Versuch, das Mögliche möglich zu machen. In einer Demokratie, wo die Macht geteilt ist, muss man geschickt vorgehen und die anderen überzeugen. Das höchste Gremium, der Bundesrat, muss einen Entscheid mittragen.

Sie haben sich wiederholt in Ihren Büchern mit dem Zweiten Weltkrieg, mit der Flüchtlingsfrage und mit jüdischen Verfolgten auseinandergesetzt. Was kann Ihr neues Buch noch beitragen?

Vielleicht kann ein Einzelschicksal, dem ich spurenweise von der Jugend in Czernowitz bis zum Internierungslager Girenbad bei Hinwil zu folgen versuche, noch mehr auslösen. Aber das war kein bewusster Entscheid. Ich bin auf die Figur gestossen und der Geschichte nachgegangen. Dann auf einmal wusste ich: Darüber kann und will ich schreiben. Das wird lebendig für mich.

Lukas Hartmann und sein Roman «Der Sänger»

September, 1942. Der weltberühmte Tenor Joseph Schmidt verabschiedet sich von Freunden in Frankreich. Mit Selma Wolkenheim, einer seiner zahlreichen früheren Liebschaften, versucht er, sich vor den Nazis in die Schweiz zu retten. Trotz seiner Berühmtheit gelingt ihm das nur auf illegalem Weg. Er kommt in das Auffanglager Girenbad bei Hinwil, zusammen mit 300 anderen jüdischen Flüchtlingen, darunter viele Künstler und Intellektuelle. Aber die Kälte des unbeheizten Lagers ebenso wie die des antisemitischen Lagerkommandanten und des zuständigen Arztes setzen ihm zu. Lukas Hartmann erzählt die wahre Geschichte des kleinen Mannes mit der grossen Stimme – Schmidt war nur 1,54 Meter gross – und verwebt seinen Abstieg ins Elend mit Erinnerungen an seine Mutter, seine Geliebten und seinen Weg zum Ruhm.

Lukas Hartmann ist 1944 in Bern geboren. Nach der Ausbildung am Lehrerseminar studierte er Germanistik und Psychologie. In seinen Romanen verarbeitet er historische Stoffe, die zumeist eng mit seiner Heimat Bern verbunden sind. Lukas Hartmann ist mit der Bundesrätin Simonetta Sommaruga verheiratet.

Lukas Hartmann, «Der Sänger», Diogenes, 288 S., erscheint am 24. 4.; Buchtaufe: 28. 4. Zentrum Paul Klee, Bern.

Für Ihre Recherche gingen Sie nach Czernowitz, an den ersten Wirkungsort von Joseph Schmidt. Was haben Sie dort gefunden?

Das Ungeheuerliche, was die Geschichte immer wieder verursacht: Es gibt einen Untergrund, der bleiben kann, und ganz vieles, das von geschichtlichen Ereignissen weggespült wird. Czernowitz war ein zentrales Gebiet des orthodoxen, aber auch des liberalen Judentums. Offenbar waren dort fast 70 Prozent der Leute vor dem Ersten Weltkrieg jüdisch, heute sind es noch 3 bis 4 Prozent. Man redete Deutsch, heute versteht praktisch niemand mehr Deutsch, die Russen waren lange genug in Czernowitz. Im Andenken an Joseph Schmidt hängt in der alten Synagoge eine Gedenktafel, aber die Synagoge ist heute ein Kino. Mich hat interessiert, was die Geschichte macht, was sie mit sich bringt, was verloren geht und was gleichwohl bleibt.

Wie weit hat Ihnen das geholfen, den Roman zu schreiben?

Ich hatte da schon einen grossen Teil geschrieben, aber ich habe ihn noch überarbeitet, und ein paar Beobachtungen sind eingeflossen.

Sie erzählen aus Schmidts Perspektive. Was brauchen Sie, um sich so in eine Person hineinversetzen zu können?

Es steckt immer etwas von mir in meinen Figuren. Aber bis ich mir zutraue, sie wirklich zu schildern, braucht es sehr viel Einfühlungsvermögen, sehr viel Versenkung in die Zeit, in die Person und was von ihr übrig geblieben ist und bei Schmidt vielleicht auch, was ich aus seiner Stimme heraushöre, ich habe selber einmal Gesang studiert. Aber ich musste ja nie flüchten, ich hatte nie tödliche Angst, gefasst zu werden. Warum ich dennoch glaube, mich einfühlen zu können, weiss ich nicht. Aber ich habe das Gefühl, es passiert.

Severin Bigler

Wie weit halten Sie sich an Fakten?

Wenn etwas belegt ist durch Aufzeichnungen und Fakten, bleibe ich dabei und fülle es mit Leben. Wenn es Lücken gibt, wage ich es, nachzuerfinden, wie es gewesen sein könnte. Das ist die Möglichkeit vom fiktiven Erzählen. Eine fiktive Biografie probt die Möglichkeiten. Ein Sachbuchautor sagt oft: Das ist das, was war. Da zweifle ich manchmal dran.

Ein Sachbuch ist auch nur eine Erzählung.

Genau. Aber einem Sachbuch fehlt der Stoff der Emotionalität, der es erst ermöglicht, wirklich an einem Leben wie dem von Joseph Schmidt Anteil zu nehmen: Wenn man spürt, wie schlecht es ihm ging, und seine Freude, als doch Leute aus dem Bauerndorf zu ihm kamen und etwas zu essen brachten. Auch die Möglichkeit, direkt an einer Figur Ambivalenzen zu zeigen, ist etwas spezifisch Literarisches. Es gibt nicht nur die eine Strebung, die sich in einer Handlung äussert, sondern vorher auch das Zögern oder die Möglichkeit, dass man es anders machen könnte.

Spielen Sie selbst noch Geige?

Eher noch Klavier. In der letzten Zeit habe ich fast alles zugunsten meiner beiden letzten Romane zurückgestellt. Aber ich will das wieder aufnehmen.

Was bedeutet Ihnen die Musik?

Es ist eine andere Form, Emotionalität ausdrücken zu können als das Schreiben. Viele Komponisten verbinden sie mit rationalen Elementen. Aber mich erreichen schon die, zu denen ich einen schnellen Zugang habe, über Empfindungen, die in der Tiefe anklingen. Das können durchaus moderne Komponisten sein, aber es können auch Chanson-Sänger sein oder Volksmusik.

Geige und Klavier haben Sie immer viel mit Ihrer Frau gespielt. Tun Sie das immer noch?

Sie spielt unterdessen lieber für sich. Ich war immer ein bisschen ein Bremsklotz, weil sie technisch viel weiter ist, sie hat ja ein Klavierdiplom.

Severin Bigler

Vor zwei Jahren ist Ihre Frau Simonetta Sommaruga aus Ihrer gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Was für Erfahrungen haben Sie mit dieser neuen Form, in getrennten Wohnungen zu leben, gemacht?

Es hat sich bewährt. Es ist inspirierend für die Beziehung, mit der Möglichkeit, ein Stück weit wirklich getrennt zu sein, aber auch wieder sehr bewusst zusammenzukommen, sich auszutauschen. Ich denke, das ist gut für uns.

In Ihren letzten Büchern haben Sie Ihrer Frau jeweils namentlich als «kreativer Erstleserin» gedankt, im neuen Buch danken Sie summarisch allen Leuten aus Ihrem privaten Kreis.

Das haben wir so abgemacht.

Im August werden Sie 75. Was für eine Bedeutung hat das für Sie?

Jubiläen sind gesetzt, das hat immer eine Bedeutung. Ich muss damit umgehen können. Ich muss auch lernen, dass ich körperlich nicht mehr so ausdauernd bin wie noch vor zehn Jahren. Aber ich bin sehr glücklich, dass meine Kreativität für mein Empfinden ungeschmälert ist. Dass ich aus der Erfahrung von vielen Jahren schreibe und glaube, daraus gelernt zu haben, und immer weiter lerne, wie ich es noch besser auf den Punkt bringe, wie ich noch präziser das wiedergeben kann, was ich eigentlich will. Das ist eine schöne Frucht vom Alter.

Wie werden Sie Ihren Geburtstag feiern?

Ich mache mit meinen Gästen eine Aarefahrt. Das hat auch etwas Symbolisches: Man ist vor Ort mit vielen lieben Leuten aus einigen Jahrzehnten zusammen auf dem Fluss. Wir sind ja im Leben ohnehin in einem stetigen Fluss.