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Kultur
Sie liebt historische Romane, er redet als Romanfigur sogar mit dem Teufel. Die Solothurner Literaturtage laden jedes Jahr Politikerinnen und Politiker ein. Regula Rytz und Gerhard Pfister sind diesen Freitag und Samstag dabei: Vorab verraten beide ihren Literaturgebrauch.
Gibt es ein Buch, das Ihr Leben verändert hat?
Regula Rytz: Ja, «Der Dschungel» von Upton Sinclair. Es geht darin nicht etwa um Botanik, wie man das bei einer grünen Politikerin erwarten könnte. Nein, es geht um die Schlachthöfe in Chicago anno 1905. Sinclair beschreibt die industrielle Effizienzmaschine so akribisch, dass auch eine überzeugte Fleischesserin für ein paar Tage zur Vegetarierin wird. Bei mir hält es sogar bis heute an. Genauso erschreckend wie die Schlachthofdetails sind die sozialen Mechanismen, welche die Menschen voneinander entfremden. Verrat gehört zur Tagesordnung und jeder denkt nur an die eigene Haut. Diese ist allerdings nicht viel wert und landet im schlimmsten Fall in einer Wurstmaschine. Für mich ist seit damals klar, dass ich mich neben dem Natur- und Klimaschutz immer auch für Menschenwürde und Gerechtigkeit einsetzen werde. Wir brauchen beides: Gesunde Lebensgrundlagen und sozialen Zusammenhalt. Global.
Finden Sie in historischen Romanen Antworten, die Sie in Sachbüchern nicht gefunden haben?
Ich bin Historikerin und liebe historische Romane. Sie bringen die individuellen Schicksale in den wissenschaftlichen Fakten zum Leuchten. Ich verschlinge alles, was Geschichte lebendig macht. Der Munzinger Pascha von Alex Capus, Anna Göldin von Eveline Hasler, die Jüdin von Toledo von Lion Feuchtwanger, die Mohrin von Lukas Hartmann – sie alle und noch viele mehr sind mir ans Herz gewachsen.
Welcher Klassiker hat Sie am meisten gelangweilt?
Ehrlich gesagt bin ich an «Ulysses» vom James Joyce gescheitert. Vielleicht nehme ich in ein paar Jahren einen neuen Anlauf. Man sollte nie aufgeben, weder literarisch noch politisch.
Mit welcher Romanfigur würden Sie gerne plaudern?
Mit Ildikó Kocsis aus Melinda Nadj Abonjis grossem Roman «Tauben fliegen auf». Es geht darin um die Geschichte einer Familie, die in den 1970er Jahren aus der serbischen Provinz Vojvodina in die Schweiz emigriert. Bei Ildikó laufen alle Fäden des virtuosen Tanzes zwischen den Welten zusammen. Wir erleben durch ihre Augen die latente Fremdenfeindlichkeit; die Überanpassung ihrer Eltern, die nach hart erkämpftem Aufstieg das «Café Mondial» in Zürich übernehmen; die Sehnsucht nach der alten Heimat, in der die Strassen staubig und die Menschen warmherzig und voller Geheimnisse sind: der Jugoslawienkrieg, der bis in die gutbürgerliche Küche des «Café Mondial» hinein Verwüstungen anrichtet. Ildikó entscheidet sich, als junge Frau in Zürich auf eigenen Füssen zu stehen. Gerne würde ich mit ihr darüber reden, wie Wunden verheilen und aus Zerstörung wieder Vertrauen und Stabilität wachsen kann. Eine Plauderstunde wird das aber wohl eher nicht.
Welches aktuelle Buch empfehlen Sie unseren Leserinnen und Lesern?
«Wer wir sein könnten» von Robert Habeck. Der Co-Vorsitzende der deutschen Grünen entwickelt darin eine politische Sprache, die Menschen in ihrer Verschiedenheit abholen und zusammenbringen will. Weg von Sprechblasen, populistischen Provokationen und Politiktheater. Hin zu einer respektvollen und sachlichen Auseinandersetzung darüber, wie wir langfristig und gut zusammenleben können. Gemeinschaft statt Spaltung – das ist der Kern der Demokratie.
Interessiert Sie die Biografie einer Autorin, eines Autors, wenn Sie deren Bücher lesen?
Ja, mich interessiert, mit welchen Erfahrungen und in welcher Situation Autorinnen und Autoren ihre Geschichten entwickelt. Sie erschaffen die Gärten, in denen ich mich als Bücherwurm sattessen kann. Was für ein Geschenk!
Mit welcher Romanfigur würden Sie gerne plaudern?
Gerhard Pfister: Mit Iwan Karamasow über seine Parabel über den Grossinquisitor und die Frage, warum Gott, wenn es ihn gibt, das Leiden von Kindern zulässt. Und warum Iwan lieber auf Gott verzichtet, wenn es darauf keine Antwort gibt. Die entscheidende Frage, der sich jeder Christ stellen muss, wenn er ernsthaft glaubt.
Und welcher Romanfigur möchten Sie auf keinen Fall begegnen?
Als Romanfigur begegne ich selbst dem Teufel gern! Denn in der Literatur muss sogar der Teufel die Begegnung selbst mit Gott nicht fürchten. Mephisto bekennt in Goethes «Faust»: «Von Zeit zu Zeit seh’ ich den Alten gern, Und hüte mich, mit ihm zu brechen. Es ist gar hübsch von einem großen Herrn, So menschlich mit dem Teufel selbst zu sprechen.» Wenn der Teufel in der Literatur vor der Begegnung mit Gott keine Angst hat, sehe ich keinen Grund, mich meinerseits vor der literarischen Begegnung mit der schlimmstmöglichen Romanfigur, dem Teufel, zu fürchten.
Welches aktuelle Buch empfehlen Sie unseren Leserinnen und Lesern?
Annette Hugs «Tiefenlager». Ich treffe mich mit der Autorin am kommenden Samstag zum Gespräch. Habe ihr Buch zu lesen begonnen, bis dahin sollte ich es fertig haben. Eine Zwischenbeurteilung: Ein Text, der mich thematisch (es geht um die Endlagerung des Atommülls, Anm.d.Red) und vor allem mit einem eigentümlichen Sprachsog, in den er mich hineinzieht, fasziniert. Komme noch nicht recht draus, wie sie das macht. Aber vielleicht erklärt sie es mir dann im Gespräch. Bin auf Seite 132 von 208. Bis jetzt sehr lesenswert! Kaufempfehlung!
Kritzeln Sie Ihre Bücher mit eigenen Gedanken voll?
Ja, ich benutze dazu allerdings nur Bleistifte. Andere Schreibutensilien sind eine ungebührliche Verletzung der Bücher. Meine literarisch interessierte Mutter kommentierte so ihre Leseerlebnisse. Die von ihr vollgekritzelten Bücher gehören zum wertvollsten Bestand meiner Bibliothek.
Interessiert Sie die Biografie eines Autors, wenn Sie dessen Bücher lesen?
Nein. Nie. Der Text ist immer wichtiger als der Autor. Ich bin in meinem Studium von Strukturalisten geschult worden. Roland Barthes, Umberto Eco, Gérard Genette. Die lehrten mich, dass der Text eines Autors immer eigene Bedeutungen schafft, die der Autor nicht im Sinne hatte. Im besten Fall erzeugt ein Text immer neue Bedeutungen und Interpretationen, an die der Autor nicht dachte, über die Zeit seiner Publikation hinaus. Dann nennt man das einen «Klassiker». Wer sich dafür interessiert: Umberto Ecos Buch «Das offene Kunstwerk» ist die geniale literaturtheoretische Begründung, warum Literatur so unglaublich bereichernd und anregend ist.
Welcher Klassiker hat Sie am meisten gelangweilt?
Die Franzosen Racine, Corneille und Konsorten. Ihre sklavische Umsetzung dessen, was sie als antike Dramentheorie missverstanden, versetzte mich in eine Mischung aus Entsetzen, Starre und Langeweile. Kann mir nicht vorstellen, dass jemand eine Aufführung dieser Dramen bis zum Ende erlebt, ohne einzuschlafen. Molière mischte dann Gott sei Dank diesen verstaubten Laden auf.
Welchen Roman haben Sie gelesen, aber überhaupt nicht verstanden?
Als 16-Jähriger griff ich mir Nietzsches «Also sprach Zarathustra» aus dem Buchregal meines Vaters heraus, eine Ausgabe in altdeutscher Schrift. Der Titel war so exotisch, dass er mich anzog. Ich las Nietzsche, ohne ihn zu verstehen. Meine Faszination für Nietzsche nahm damals ihren Anfang. Ich verstehe ihn heute immer noch nicht, aber aus andern Gründen.
Wer sich näher für das Verhältnis von Politik und Literatur interessiert, dem seien die zwei Gespräche mit Regula Rytz und Gerhard Pfister ans Herz gelegt. Regula Rytz wird kommenden Freitag um 18 Uhr mit der Schriftstellerin Zora del Buono diskutieren, Gerhard Pfister tags darauf am Samstag um 12 Uhr mit der Schriftstellerin Annette Hug.
Die Solothurner Literaturtage finden zum zweiten Mal als Online-Festival statt. Alle Veranstaltungen sind online zugänglich. Sie werden live aus Solothurn als Video- oder Audio-Veranstaltung auf literatur.ch gestreamt. Für die Kategorien «Sehen» und «Hören» können Dauer- oder Tageskarten erworben werden.
Die Literaturtage verstehen sich nach wie vor als Werkschau des Schweizer Literaturschaffens. Mit neuen Büchern kommen etwa Dorothee Elmiger, Linus Reichlin, Annette Hug, Benedict Wells, Melitta Breznik oder Zora del Buono.
Einige Debüts sind zu entdecken: von Annina Haab, Ilia Vasella, Christoph Schneeberger (der am Mittwoch einen der eidgenössischen Literaturpreise erhält), Lukas Maisel. Entdeckungen kann man auch in der Sparte Spoken Word, etwa mit Jens Nielsen, Daniela Dill oder Balts Nill und Graphic Novel, mit Simone F. Baumann und Jan Bachmann machen.
Ausländische Gäste wie Elke Heidenreich oder Mithu M. Sanyal ergänzen das Programm. Gespräche zu Identitätspolitik, Mütter in der Literatur, Populismus sowie Erinnerungsveranstaltung zu Friedrich Dürrenmatt und Adelheid Duvanel runden das Programm ab.
Infos unter: www.literatur.ch