Literatur-Genie
Nach dem russischen Straflager schuf er Weltliteratur: Zum 200. Geburtstag von Dostojewski

Keiner schrieb abgründiger über Spielsucht, Wahnsinn, Verbrechen und christliche Erlösung wie der 1821 geborene Fjodor Michailowitsch Dostojewski.

Heiko Strech
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Das Bild eines Literaturgenies: Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821–1881)

Das Bild eines Literaturgenies: Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821–1881)

Imago/Getty Images

Leidenschaft, Leid, Liebe, Liebesleid, Gut und Böse, Tod, Mord – ewige Themen der Dichtung, die auch heute aufwühlen. Fjodor Michailowitsch Dostojewski schuf sein Riesenwerk extrem belastet von aussen und innen. Zudem war er Epileptiker. Nach einem Todesurteil und einer Scheinhinrichtung wurde der politische Rebell «begnadigt». Was hiess: vier Jahre Straflager in Sibirien. Seine «Aufzeichnungen aus einem Totenhaus» (1861) schildern entsetzliche Prügelstrafen. Die Sträflinge tragen fünf Kilo schwere Ketten Tag und Nacht. Doch dieser Gulag war kein Nazi-Vernichtungslager. Die Insassen machten das Beste aus ihrer Lage, spielten Theater unter Kettenklirren, feierten Weihnachten.

Am Roulettetisch wäre er fast ein Literatursklave geworden

Im Roman «Der Spieler» (1867) reflektiert der Autor seine Spielsucht. Unsichtbare Ketten fesseln ihn nach dem Gulag an den Roulette-Tisch. Seine gleichzeitige Liebessucht zur bös ­kapriziösen Polina baute er ebenfalls ein. Den wahnwitzigsten Einsatz seines Lebens jedoch – den gewinnt er. Für 3000 Rubel fürs Roulette schliesst er einen Fesselvertrag: Lieferung eines Romans bis zum 1. November 1866. Sonst darf der zynische Verleger alle bisherigen und künftigen Bücher verkaufen, ohne einen Rubel zu bezahlen.

Anfang Oktober hatte der spielsüchtige Dostojewski noch nichts geschrieben. Ein Freund vermittelte dem 45-Jährigen die 20-jährige Stenografin Anna Grigorjevna. In unfassbaren 26 Tagen diktiert er seinen «Spieler» und liefert pünktlich. 1867 heiraten Anna und Fjodor. Seine erste Frau war 1864 gestorben. An Anna schrieb Dostojewski: «Du bist meine Hoffnung und mein Glück und mein Segen!» Unter ihrem Einfluss löst sich der 50-Jährige 1871 endlich vom Spieltisch.

Ist sein Romanheld ein Idiot oder ein christlicher Märtyrer?

«Der Idiot» gehört zu den ganz grossen Romanen des Dichters. «Held» ist der junge Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin. Er krankt an einem Nervenleiden – ein «Idiot» für die Umwelt, Epileptiker gleich seinem Autor. Doch mitten im Leidenskrampf geschieht dies: «Der Kopf, das Herz erhellte ein unvorstellbares Licht, alle Erregungen, alle seine Zweifel, alle Unruhe lösten sich gleichsam in einem Frieden, waren aufgehoben in einer höchsten Ruhe voll klarer, harmonischer Freude und Hoffnung, voller Weisheit und letztem Grund.»

Der im Doppelsinn gottgezeichnete Myschkin ist sanft und duldsam, voller Empathie. Seine Visionen kollidieren dramatisch mit der dekadenten, geldgeilen, dünkelhaften und verlogenen Gesellschaft in St.Petersburg. Ihr steht Myschkin als eine Art Christusfigur, als «Idiot in Christo», gegenüber. Fasziniert betrachtet er einmal ein Porträt der später geliebten Nastassja, die Züge von Polina trägt: «Unermesslicher Stolz und Hochmut, beinahe Hass, schienen aus diesem Gesicht zu sprechen, zugleich aber auch ein Zutrauen und eine erstaunliche Gutherzigkeit.»

Ein Mensch in seinem Widerspruch, diese kapriziöse Nastassja! So fesseln uns die Romangestalten immer durch Wechsel-Aspekte ihres Denkens und Tuns, auch in den Dialogen mit jäh umschlagender Argumentation und überraschenden Stimmungswechseln. Der Dichter lässt ganz modern Bewusstseinsströme seiner Figuren fliessen, wechselt die Erzählperspektive und verabschiedet den allwissenden Erzähler.

Im Schlusskapitel treibt Dosto­jewski die Christus-Güte Myschkins auf die Spitze. Mörder Rogoschin führt den Fürsten dahin, wo er Nastassja erstochen hat. Der «Idiot» tröstet den tief Verstörten und hält mit ihm die Totenwache. Rogoschin muss später nach ­Sibirien. Der «Idiot» kehrt geistig verwirrt wieder ins Sanatorium zurück, aus dem er kam – in die Schweiz.

Dostojewski konnte auch spannende Krimis schreiben

Nach zwei weiteren Romanen über russische Revolutionäre («Die Dämonen») und einen existenzialistischen Mörder («Schuld und Sühne») gräbt Dostojewski im Spätwerk «Die Brüder Karamasow» in einer unvergleichlich glutvollen Romanlava noch einmal tief in seinen eigenen Seelenschichten. In den drei Karamasow-Brüdern spaltet er sich auf: Dimitri steht für Leidenschaft und Ausschweifung, der Atheist Iwan für Intellekt und Reflexion, Aljoscha für Menschenliebe und Gottesglaube. Vater Karamasow heisst «Fjodor» wie Dostojewski selber – und die Söhne entsprechend «Fjodorowitsch», Sohn Fjodors. Zufall?

Die drei Söhne wünschen ihrem Vater, einem Wüstling und Tyrannen, den Tod: Sie sind Gedankenmörder. Eines Nachts wartet Dimitri, ob die von beiden begehrte Gruschenka den Vater heimlich trifft. Stimmt. Der Vater wird ermordet. Dimitri war es nicht, sondern der Halbbruder der Karamasow-Brüder, der gottlose Pawel. Er rühmt sich, die Vatermord-Gedanken der Brüder bloss umgesetzt zu haben.

Beim Vater Karamasow dachte Dostojewski wohl an seinen eigenen. Brutal unterdrückte Leibeigene sollen ihn 1839 erschlagen haben. In diesem spannend konstruierten Karamasow-Krimi geht es letztlich um Grundfragen des Menschseins: Schuld und Sühne, Gott und Mensch, Glaube und Unglaube – um den Sinn des Lebens.

Auch als Autor zerrissen zwischen Gottferne und Gottesnähe

Das Leiden am offensichtlich Bösen dieser Welt und die Sehnsucht nach dem eher verborgenen Guten – dieses Seelendrama des Dichters überschrieb er seinen unvergesslichen Romangestalten. Das Leiden Unschuldiger treibt Iwan Karamasow dazu, sein «Eintritts-Billett» in eine Welt zu «retournieren», in der Gott entsetzliche Misshandlungen an Kindern zulässt.

Dostojewski entnahm der Presse reale Fälle wie diesen: Ein kleiner Junge habe einmal einen Stein nach dem Lieblingshund eines Generals geworfen. Der liess den Kleinen splitternackt ausziehen, von Hunden hetzen und zerfleischen, vor den ­Augen seiner Mutter. Albert Camus, der gleich Nietzsche, Freud, Kafka und unzähligen anderen Autoren Dostojewski bewunderte, erkannte beim grossen Russen existenzialistische Züge des Geworfenseins in eine gottferne Welt – und formulierte sodann im Sinne Iwans: «Das Leiden der Kinder, das ist der Fels des Atheismus.»

Ein Leben ohne Liebe ist die Hölle

In «Die Brüder Karamasow» tritt der Christ Aljoscha am Ende ins Zentrum. Nach dem frühen Tod seines Sohnes mit dem nicht zufälligen Namen «Aljoscha» fand Dostojewski Trost beim berühmten Einsiedlermönch Ambrosius. Aljoscha Karamasow begegnet er unter dem Namen «Sossima». Der definiert psychologisch ganz modern, was die Hölle sei: «Das Leiden daran, dass man nicht mehr lieben kann.»

Ist Dostojewski mit der Zeichnung der christlichen Lichtgestalten erlöst von seinen Glaubenskonflikten? Nein. Er blieb ein Willenschrist: «Wie viele Leiden hat mich dieser Durst nach Glauben gekostet, und wie viel kostet er mich noch; er ist umso stärker in meiner Seele, je mehr Argumente ich dagegen habe…» Am Abend des 9. Februars stirbt Dostojewski. Am Morgen bittet er seine Frau, aus dem Neuen Testament vorzulesen. Das hatte ihm einst eine adelige Frau in der Verbannung geschenkt: sein einziges Buch in der Strafkolonie. Nie trennte er sich von ihm. Weit und tief wirkt er bis ins Heute – in 170 Sprachen.

Fjodor Dostojewskis Werke sind in vielen Verlagen, auch als E-Book, greifbar. Besonders zu empfehlen sind folgende Romane: «Der Spieler», 200 S. «Der Idiot», 950 S. «Schuld und Sühne», 570 S. «Die Dämonen», 990 S. «Die Brüder Karamasow», 1350 S.