Das Basler Filmfestival experimentiert mit Virtual Reality und einem Thriller mit live Publikums-Voting.
Seit gestern flackern im Gerbergässli wieder Kurzfilme und Musikvideos von lokalen und internationalen Nachwuchsfilmemachern über die Leinwand. Doch nicht nur junge Talente, sondern auch innovative Technologien stehen im Fokus des 8. Gässli Film Festivals.
Virtual Reality (kurz VR), die Immersion des Zuschauers in einer virtuellen 360-Grad-Umgebung durch Brille und Kopfhörer, entwickelt sich gerade von der Jahrmarkts-Attraktion zum Spielplatz für junge und engagierte Künstler. So lassen sich im Gerbergässli derzeit Flüge über New York simulieren, das 3D-Modell eines Van Gough-Bildes begehen oder eine medizinische Operation hautnah mitverfolgen.
Ist diese Entgrenzung zwischen Film und Computerspiel die Zukunft der Branche? «Wer VR ausprobiert, spürt das immense Potenzial», sagt der umtriebige Festival-Direktor Giacun Caduff. Er hat die Technologie im Januar am US-Festival Sundance für sich entdeckt und wollte sie unbedingt in Basel zeigen. Mitgebracht hat er Ehrengast Randal Kleiser, Regisseur des Kult-Musicals «Grease», der inzwischen ebenfalls mit Virtual Reality experimentiert.
Caduff ist überzeugt, dass sich mit veränderten technischen Bedingungen auch stets neue Fragen für die Künstler stellen: «Die erzählerischen Möglichkeiten müssen erst noch ausgetüftelt werden.» Der Herausforderung haben sich die Entwickler des «CtrlMovie»-Systems angenommen. Sie wollen den interaktiven Film von der VR-Einzelerfahrung zurück in den Kinosaal bringen, wo die Gemeinschaft des Publikums per Mehrheitsentscheid über den weiteren Verlauf der Geschichte entscheidet.
Produzent Baptiste Planche präsentierte am Eröffnungsabend im Stadtkino den Spielfilm «Late Shift», worin am unteren Bildrand immer wieder verschiedene Handlungsoptionen der Hauptfigur erscheinen. Über eine App stimmen die Zuschauer fortwährend ab, ob sich der Nachtwächter eines Parkhauses von einer Verbrecherbande umgarnen lässt, die Polizei einschaltet oder sich an dem Raubzug bereichert.
Damit bei rund 180 Entscheidungspunkten nicht eine Unzahl an möglichen Handlungsverläufen entsteht, führen die verzweigten Fäden im ersten Filmdrittel an den wichtigsten Punkten zusammen. «Für uns war von Anfang an klar, dass der Protagonist nicht nach zwei Minuten zum nächsten Flughafen gelenkt werden und einen Flieger in die Karibik nehmen kann», erklärt Planche die beschränkten Handlungsoptionen. «Wir wollten einen Crime-Thriller machen», der Weg sei daher ein stückweit vorgegeben.
Immerhin hält «Late Shift» sieben komplett verschiedene Enden bereit – und es sei spannend zu beobachten, wie die Zusammensetzung des Publikums zu unterschiedlichen Ergebnissen führe. «Je grösser der Anteil betrunkener junger Männer, desto grausamer der Ausgang», fasst Planche die Aufführungen in Cannes, Locarno und Neuchâtel zusammen. Entpuppt sich der interaktive Spielfilm damit als verkapptes soziologisches Experiment? Für eine systematische Auswertung des Entscheidungsverhaltens sei die Technologie nicht bereit, wie der Produzent mitteilt. Grundsätzlich sei eine Weiterentwicklung in diese Richtung aber möglich.
Zumindest das Basler Publikum folgte widerstandslos den Genre-Konventionen und bekam einen stromlinienförmigen Heist-Thriller inklusive romantischem Techtelmechtel und Happy End zu sehen. Nur einmal wurde dem Protagnisten das Küssen verweigert – und der Kinosaal jubilierte ob diesem spontanen Ausbruch an subversiver Energie. Nach dem braven Ende hat sich der eine oder die andere wohl tatsächlich mehr Trunkenheit im Publikum gewünscht.
Das 8. Gässli Film Festival dauert noch bis und mit Sonntag, 4. September.