Die Ideen zu ihren Unternehmen haben Mark Zuckerberg, Elon Musk und Jeff Bezos bei Zukunftsromanen abgeschaut. Zeit, dass wir sie auch lesen und besser verstehen.
Was haben Elon Musk, Mark Zuckerberg und Jeff Bezos gemeinsam – abgesehen davon, dass sie zu den erfolgreichsten Unternehmern und damit zu den reichsten Männern unserer Zeit gehören? Sie alle sind Science-Fiction-Kenner. Egal, ob es um die Kolonisierung des Mars geht, die Verschmelzung von Geist und Hirn, die Revolution des (Online-)Handels, die Elektrifizierung der Autoindustrie oder die Vernetzung der Welt: Die Ideen für ihre Unternehmen haben sie aus Zukunftsromanen abgekupfert.
Am augenfälligsten wird das bei Mark Zuckerberg, der seinen Konzern Facebook kürzlich in Meta umgetauft hat, weil der ursprüngliche Name zu altertümlich anmutete. Schliesslich hat Zuckerberg mehr vor: Er will ein begehbares Internet schaffen, das er «Metaverse» nennt. Nicht nur die Vision stammt aus dem Roman «Snow Crash» von Neal Stephenson, sondern auch der Name der digitalen Parallelwelt, die dereinst wichtiger als die eigentliche Welt werden könnte.
Zuckerberg, Musk und Bezos horten zusammen ein Vermögen von über 600 Milliarden Dollar. Zählt man die Börsenwerte ihrer Firmen zusammen, kommt man auf knapp 4 Billionen Dollar, was über fünfmal mehr ist als das Schweizer Bruttoinladsprodukt.
Es sieht so aus, dass auch wir mehr Science-Fiction-Romane lesen sollten. Nicht (unbedingt), um zu Milliardären zu werden, sondern um zu verstehen, wohin die Welt steuert. Schliesslich haben Zuckerberg, Bezos und Musk unser Leben in den letzten zehn Jahren mindestens so sehr geprägt wie unsere sieben Bundesräte mit Barack Obama, Donald Trump und Xi Jinping zusammen.
Naheliegend ist es, mit «Snow Crash» (1992) zu beginnen, in dem eine von Hackern und Nerds erschaffene virtuelle Welt ein neues Spielfeld für die Reichen ist. Auch «Das Spiel Azad» (1988) von Iain M. Banks wäre ein Anfang; in diesem Roman können Menschen so lange leben, wie sie wollen, und ihr Geschlecht so oft ändern, wie sie möchten. Sowohl Musk als auch Zuckerberg haben den Roman als eines ihrer Lieblingsbücher bezeichnet. Ein anderer Tipp: «Daemon» (2006) von Daniel Suarez. Hier nimmt eine künstliche Intelligenz Einfluss auf das Weltgeschehen – wobei gar nicht so klar wird, ob das gut oder schlecht für die Menschheit ist. Man könnte auch …
Aber halt! All diese Bücher stossen bei der Kulturelite kaum auf Resonanz, werden weder an Schulen noch an Universitäten behandelt. Das ist ein Fehler. Philippe Wampfler, Gymnasiallehrer für Deutsch in Zürich und Digital-Experte, sagt:
«Der Kanon stimmt schon lange nicht mehr. Er ist einseitig an bildungsbürgerlichen Vorstellungen von ‹guter› Literatur ausgerichtet. Es fehle insbesondere die Science-Fiction.»
Nichts gegen Heinrich von Kleist, Gottfried Keller, Thomas Mann und all die anderen verstorbenen Männer, die in den Klassenzimmern zur Pflichtlektüre gehören (Frauen sind noch immer selten). Wer aber verstehen will, wohin die stetig schneller drehende Welt im 21. Jahrhundert steuert, findet kaum Antworten, wenn er die Marquise von O, den grünen Heinrich oder Hanno Buddenbrook fragt.
Klar, man kann sagen, dass gerade die Klassiker Goethe und Schiller mit ihrem Streben nach universellen Werten losgelöst von Zeit und Ort ewige Gültigkeit haben. Wenn man aber wissen will, in welche Szenarien uns technologische Entwicklungen wie künstliche Intelligenz oder Quantencomputer und globale Herausforderungen wie die Klimaerwärmung und Pandemien führen können, helfen sie nicht weiter.
Ist das überhaupt die Rolle von Romanen, uns aufzuzeigen, wohin sich die Welt bewegt? Die Antwort kann nur lauten: nicht nur, aber sicher auch. Im Modus des Fiktionalen kann die Literatur hier etwas bewirken, was die Wissenschaft nicht kann: Sie zeigt uns nämlich nicht, wie die Welt ist, sondern wie sie sein könnte.
Romane erschaffen immer eine alternative Welt. Doch wenn sie in der Zukunft angesiedelt ist, werden sie von Literaturkritikern allzu oft verschmäht. So meinte Marcel Reich-Ranicki in der FAZ: «Es trifft schon zu, dass die Science-Fiction-Werke in der Literaturkritik nur ein dürftiges Echo finden. Der wichtigste Grund mag sein, dass die unzweifelhaften Vorzüge dieser Prosa mit Kunst nichts zu tun haben.»
Dem würde der Literaturwissenschafter Philipp Theisohn widersprechen:
«Science-Fiction beschränkt sich nicht nur auf die Wahl der Themen, sondern ist eine eigene Form von Literatur mit einer eigenen Poetik.»
Theisohn darf man als Ausnahme bezeichnen, er ist gleichzeitig Ordinarius für Literaturwissenschaft an der Universität Zürich und Science-Fiction-Experte. Natürlich liest er mit seinen Studenten SF-Romane und findet, dass man das unbedingt auch am Gymnasium tun soll. «Die Science-Fiction unterstellt die Literatur offen dem Ziel einer Erkenntnis – welcher auch immer. Sie führt uns erzählend in Räume, die wir noch nicht bewohnen und auch noch nicht verstehen, die aber in unserer Welt wurzeln», sagt er.
Eine Denkweise, die noch nicht überall angekommen ist. Doch während gestrenge Gymnasiallehrerinnen, puristische Professoren und traditionalistische Literaturkritikerinnen der Zukunftsliteratur noch immer wenig Kunstvolles abgewinnen können, schreiben einige der bekanntesten Literaten der Gegenwart längst Science-Fiction-Romane. Ian McEwan erörtert in «Maschinen wie ich» (2019) die Unterschiede zwischen Menschen und Robotern. Ähnlich verfährt Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro in «Klara und die Sonne» (2021).
Und hierzulande gingen zwei der letzten drei Auszeichnungen für den Schweizer Buchpreis an Romane, die man durchaus zur Science-Fiction zählen sollte: «GRM Brainfuck» von Sibylle Berg 2019 und dieses Jahr «Die Erfindung des Ungehorsams» von Martina Clavadetscher.
Es gibt also gute Gründe, sich intensiv mit Zukunftsromanen auseinanderzusetzen. Man sollte es aber unbedingt tun, bevor sie zur Gegenwart geworden sind. Denn anders als die Techunternehmer, die in den kalten Zukunftstechnologien die Blaupause fürs nächste Billionengeschäft sehen, dürfte die Intention der Autorinnen und Autoren eine ganz andere gewesen sein: Einige ihrer Szenarien sollten wir als Warnrufe aus der Zukunft verstehen. Andere zeigen bloss, wie neue Technologien zu neuen Herausforderungen werden können. Immer aber geht es darum, was es heisst, Mensch zu sein in einer sich rasant entwickelnden Welt.
Gerade wenn sich Zuckerberg und Co die Romanszenarien zum Vorbild nehmen, sollten auch wir sie genau lesen. Denn wollen wir wirklich in einer Welt leben, in der es zwar ein technisch elaboriertes Metaverse gibt, die reale Welt aber verkümmert, Staaten keine Macht mehr haben, und die Mafia das Sagen hat?