Vor 150 Jahren wurde Heinrich Mann geboren – und stand zeitlebens im Schatten seines berühmten Bruders Thomas. Das muss sich ändern. Der Autor war ein grandioser Satiriker und analytischer Prophet.
Bis heute steht er im Schatten des vier Jahre jüngeren Bruders Thomas, Nobelpreisträgers 1929 für den Roman über den Verfall der Familie Buddenbrook von 1901. Jahrelang führten die beiden einen Bruderzwist im Hause Mann aus Lübeck. Der langsam schreibende Thomas fuhr den rasch produzierenden Heinrich an: «Ich halte es für unmoralisch, aus Furcht vor den Leiden des Müssigganges ein schlechtes Buch nach dem anderen zu schreiben.»
Während Heinrich in «Der Untertan» (1914) vor dem strukturellen Militarismus des wilhelminischen Obrigkeitsstaats hellsichtig warnte, schwärmte Thomas, «wie die Herzen der Dichter in Flammen standen, als jetzt Krieg wurde». Heinrichs Herz loderte nicht, sondern schlug für die Satire, die Phrasen-Entlarverin.
Schon in «Professor Unrat» (1905) drillt Gymnasiallehrer Raat – Schülerjargon «Unrat» – als Möchtegernoffizier sadistisch seine «Rekruten». Doch im Tingeltangel verfällt er der «Barfusstänzerin» Rosa Fröhlich, verliert seine Stelle, macht obskure Geschäfte, stiehlt und landet am Ende im Polizeiwagen. «Er empfing von hinten einen Stoss, stolperte das Trittbrett hinan und gelangte kopfüber auf das Polster neben der Künstlerin Fröhlich und ins Dunkel.» Hoch erfolgreich wie der Roman war seine Verfilmung «Der blaue Engel» (1930) mit Marlene Dietrich – hinreissend von Kopf bis Fuss auf Liebe eingestellt.
Für damalige Verhältnisse recht freizügig schilderte Heinrich Mann Sexuelles. Thomas schalt Heinrich deshalb einen «Zivilisationsliteraten». Das war literarische Kriegstreiberei. Für Thomas repräsentierte Deutschland die «Kultur», während «Zivilisation» offenbar Sittenverfall à la française bedeutete. 1915 bis 1922 dauerte die bittere politisch-literarische Entfremdung.
«Der Untertan», Heinrichs Sensationserfolg, prangert schneidend satirisch die Deutschtümelei an, das «Deutschland über alles in der Welt», samt den militaristischen Tendenzen im Alltag. Ein Schwiegersohn musste damals ja schon Reserveleutnant sein. Studenten hieben einander Schmisse ins Gesicht, Duelle retteten die Ehre beim Seitensprung der Ehefrau – wie in Fontanes «Effi Briest»!
Heinrich und Thomas Mann – auch zwischen ihnen tobte der erbitterte Zwiespalt von rechts und links. Mit der «Dolchstosslegende» behaupteten die rechtsstrammen Deutschen, die Linken hätten ihnen per innenpolitischer Subversion den Sieg im Ersten Weltkrieg «gestohlen»: Superfake! Siehe jüngst die «gestohlenen» US-Wahlen!
Heinrich Manns Untertan heisst Diederich Hessling. Am Brandenburger Tor begegnet er Kaiser Wilhelm II.:
«Auf dem Pferd dort, unter dem Tor der siegreichen Einmärsche und mit Zügen, steinern und blitzend, ritt die Macht, die über uns hingeht und deren Hufe wir küssen! Gegen die wir nichts können, weil wir alle sie lieben! Die wir im Blut haben, weil wir die Unterwerfung darin haben! (…) Jeder einzelne ein Nichts, steigen wir in gegliederten Massen, als Neuteutonen, als Militär, Beamtentum, Kirche und Wissenschaft, als Wirtschaftsorganisationen und Machtverbände kegelförmig hinan, bis dort oben, wo sie selbst steht, steinern und blitzend!»
Hesslings Ich geht auf im völkischen Wir. Das Zitat deutet schon auf die «Gleichschaltung» der Deutschen unter dem gewählten Reichskanzler Hitler. Kaiser Wilhelms Hessling macht rechtsopportunistisch Karriere, wird Herrscher in Familie und Betrieb – reich eingeheiratet, judenfeindlich, sozial kalt.
Gnadenlos entlarvt Heinrich Mann so zeitbezogen wie zeitlos den Untertanen-Typus. Eine hoch amüsante Lektüre, die einen doch immer wieder schaudern lässt. Denn Mann meint es bitterernst. Als Prophet zweier Weltkriege, die insgesamt etwa 100 Millionen Tote «kosteten».
Unter Hitler musste Heinrich Mann 1933 emigrieren. Als Präsident der Sektion Dichtkunst der Akademie der Künste wurde er gefeuert. Die Nazis verbrannten seine Bücher, entzogen ihm die Staatsbürgerschaft. 1933 floh er nach Frankreich, 1940 nach Kalifornien. Dort lebte bereits Thomas. Politisch inzwischen vereint, kämpften die Brüder längst in Wort und Schrift gegen Hitler.
Fast unheimlich ungebrochen hatte Emigrant Heinrich Mann inzwischen sein grandioses Hauptwerk vollendet, die beiden Romane «Die Jugend des Königs Henri Quatre» (1935) und «Die Vollendung des Königs Henri Quatre» (1938). Allen primitiven Autokraten dieser Welt stellt Mann «le Bon Roi Henri» in der französischen Renaissance mit ihrer hohen Kultur des Geistes und der Kunst gegenüber.
Grausam jedoch tobten acht Hugenottenkriege. Der calvinistische «gute König» Henri Quatre (1553–1610) wurde vom Volk als Wohltäter geliebt.
Seine Maxime war nicht das Schüren, sondern das Lösen von Konflikten. Doch dauernd musste er Krieg führen, für die Anerkennung der Reformierten gegen die Katholiken. Seine Hochzeit mit der katholischen Margarete von Valois in Paris wurde statt zur Versöhnung der Konfessionen zur «Bluthochzeit» der Bartholomäusnacht (23./24. August 1572), dem grausamen Massaker an den geladenen Hugenotten. Ihm folgten landesweite Pogrome.
Prinz Henri wurde verschont, musste aber als Zwangskatholik am Hof bleiben, floh, konvertierte abermals. Und trat als König von Frankreich wieder zum Katholizismus über. Sein geschmeidiger Opportunismus mit dem Ziel der innenpolitischen Befriedung wurde zum Segen für Frankreich. Henris «Edikt von Nantes» (1598) ist ein leuchtendes Beispiel der Toleranz zwischen Katholiken und Calvinisten. 1610 erstach der fanatische Katholik François Ravaillac den «Bon Roi». Ravaillac wurde seinerseits aufs Grausamste gefoltert und gevierteilt.
Souverän meistert der über sechzigjährige Heinrich Mann im Exil – neben der gewaltigen historischen Recherche – die Aussen- und Innenansicht seiner Figuren, eingebettet in Hofintrigen, Amouren, Volksleben, Kriegsführung. Ein geschriebener Monumentalfilm, hoch anschaulich vom Regisseur Mann «gesehen». Jäh wird «Henri Quatre» immer wieder zukunftstransparent: Henris Intimfeind etwa, der Herzog von Guise, erinnert an Hitler, Boucher, der Hetzredner gegen Henris Toleranz, an Goebbels.
Von «verkümmerter Gestalt», dessen Sprache «leicht zum Gebell» entartet, geifert er, «der Schmachfriede und aufgezwungene Vertrag mit den Ketzern würde hiermit zerrissen. Laut schrien der Boden und das Blut nach Gewalt, Gewalt, Gewalt, nach einer kraftvollen Reinigung von allem, was ihnen fremd wäre, von einer faulen Gesittung, einer zersetzenden Freiheit.» Das 20. Jahrhundert, verfremdet im Geschichtsbild – diese Parallel-Lektüre macht den Roman so spannend.
Längst hatte Thomas seines Bruders Stärke eingestanden:
«Ich weiss, dass das Soziale meine schwache Seite ist.»
Und spät anerkannte er Heinrichs prophetische Gabe. Über «Henri Quatre» schreibt er, man habe
«das Gefühl, es mit dem Besten, Stolzesten, Geistigsten zu thun zu haben, das die Epoche zu bieten hat. Das Buch ist gross durch Liebe, durch Kunst, Kühnheit, Freiheit, Weisheit, Güte, überreich an Klugheit, Witz, Einbildungskraft und Gefühl…»
Im Exil litt der so brüderlich Gepriesene unter Armut und Einsamkeit. Seine zweite Frau Nelly Kröger brachte sich 1944 um, seine erste, Maria Kanova, starb 1947 an den Folgen von KZ-Torturen. 1949 wurde Heinrich Mann zum Präsidenten der neuen Akademie der Künste in Berlin berufen. Doch er starb am 12. März 1950 in Kalifornien, noch vor Amtsantritt. Der Bruderzwist im Hause Mann ist Geschichte. Freuen wir uns, dass wir die beiden so ungleichen Brüder haben – den fein ziselierenden Thomas und den kühn zupackenden Heinrich!
Preiswerte Ausgaben der hier erwähnten Romane sind als Taschenbücher erhältlich, etwa bei Fischer, Rowohlt oder Reclam. Zum 150. Geburtstag sind illustriert und mit Kommentaren in neuer Aufmachung erschienen:
- Der Untertan, Reclam, 492 S.
- Der Untertan, Fischer, 640 S.