Jubel am Eröffnungskonzert des «20. Boswiler Sommer»: Der Abend ermöglichte es, an die grosse und glückliche Vergangenheit zu denken.
«Braucht der Sommer wirklich noch mehr Festivals?», habe ich an dieser Stelle am 6. März 2001 dumm gefragt. Damals stellte das Künstlerhaus Boswil das Programm für den 1. Boswiler Sommer vor. Und ich schrieb auch: «Nicht irgendwelche Stars werden auftauchen und ihr Dutzendprogramm abliefern, sondern grosse, exklusive Inhalte präsentiert.» Wahrscheinlich dachte ich: «Schöne Worte, aber ‹liefere, ned lafere›.»
Boswil lieferte. Ein Blick zurück zeigt es – und der Eröffnungsabend am Mittwoch beweist es erneut.
Das «Happy Birthday»-Konzert startete mit dem Vorspiel zu Georges Bizets «Carmen» furios, die Chaarts legten damit Vesselina Kasarova den ihr gebührenden roten Teppich aus. Die Mezzosopranistin brachte Glanz und Glamour in den Boswiler Jubiläumsabend. In der «Habanera» der Carmen baut Kasarova die Phrasen aus dem Wort auf, weist so den tanzenden Gesangslinien ihren Weg. War ihre bassgurgelnde Tiefe einst ein kühner Effekt, wirkt dieser Klang heute etwas fremd. Doch der Abend nahm mit Beethovens 1. Sinfonie alsbald einen neuen Weg.
Gespielt wurde das Werk von zehn Musikerinnen und Musikern. Unglaublich, welch schonungslosen Einblick man da ins offene Herz dieser Sinfonie bekam. Es braucht Mut, sich mit fünf Streichern und fünf Bläsern diesem Klangkoloss auszusetzen. Der famose Konzertmeister Stefan Tarara hielt seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter musikalisch wie technisch ideal zusammen. Es war, als wäre da eine riesige Sinfonie concertante am Entstehen gewesen.
Nicht minder spannend war es im zweiten Teil, als Béla Bartóks «Rumänische Volkstänze» aufgeführt wurden. Gerade um solch selten gespielte Werke zu hören, reist man immer wieder nach Boswil.
Dann – Festivalmagie? – war der Diven-Moment gekommen ... Kasarova stimmte bulgarische Volkslieder an und war wie von Zauberhand geführt mitsamt ihrer Stimme ganz bei sich: Das war Gesang, der von tief innen kam und bei den Zuhörern nach tief innen ging. Sprache wurde hier zu Melodie und bald zu Emotion – so wundersam geheimnisvoll, dass die Welt rundum vergessen ging.
Es war jener Moment, in dem die Alte Kirche jeweils ein Luftschloss wird, in die weite Welt losfliegt, dorthin, wo in den Kammerkonzerten auch die Weltpresse sitzt. In der Alten Kirche Boswil sassen in den 20 Jahren die Kritikerinnen und Kritiker der «Aargauer Zeitung» meistens allein.
Der «BoSo» blieb ein Geheimtipp, erlebte vielleicht gerade deswegen 20 grosse Jahre – und überlebte vor kurzem sogar eine Revolution. Dass man zum Jubiläum doppelt beschenkt wird, ist umso schöner: Zuerst mit dem Europäischen Kulturpreis (siehe Box) – und ab Samstag mit einer Corona-Öffnung: Plötzlich ist es möglich, für fast jedes Konzert Karten zu erhalten.
Bisweilen schlug man sich rund um Boswil fast darum. Etwa im zweiten Festspielsommer gelang da doch Andreas Fleck ein Coup: Klavierlegende Martha Argerich spielte in der Alten Kirche auf. Von wegen «keine Stars»!
Am Mittwoch konnte der Boswiler Sommer nicht nur den Auftakt des 20-Jahr-Jubiläums feiern, gleichzeitig wurde das Festival auch mit dem Europäischen Kultur-Projekt-Preis 2021 ausgezeichnet. Es erhält ihn für seine herausragenden Verdienste um die Musik. Die Preisverleihung wird am 1. Oktober im Stadttheater Lindau über die Bühne gehen. Christine Egerszegi wird die Laudatio halten. (bez)
Die meisten Boswiler Künstler leben aber mit all ihrem Glanz glücklich in der zweiten Reihe. Für Fleck blieb nämlich die Frage entscheidend: «Wo finden wir die Leute, die sehr gut sind, aber Lust haben, sich mit anderen zusammenzutun?» Vom Soloabend bis zum Orchesterkonzert oder der Liedbegleitung liegt für Boswiler Artistinnen und Artisten bis heute alles drin. Und als 2013 Rapper Knackeboul das Festival eröffnete, zischte, stampfte, spuckte und blubberte es aus dem Kirchenrund, dass es eine Freude war.
Trotz allem Boswiler Glück und aller Freuden wollen wir nicht von der abgelutschten Bezeichnung «Kraftort Boswil» sprechen. Aber der zauberhafte Hain rund um die Alte Kirche, der Duft nach Kuhstall und faulem Obst lullen jeden Gast schnell ein. Ich weiss nicht, wie viele Stunden und Tage ich insgesamt vor und in dieser Kirche sass – so oft jedenfalls, dass ich mir im Konzert auch mal Gedanken über die berüchtigten Boswiler Schmeissfliegen machte: «Was einer Fliege wohl alles durch ihr Oberschlundganglion geht, wenn sie den ganzen Tag auf einem dicken Boswiler Kuhfladen verbracht hat, sich am Abend aber in die Alte Kirche verirrt und dort zusammen mit dreihundert Menschen Haydns Oratorium ‹Die Schöpfung› hört?», schrieb ich 2011.
Naturgemäss sass auch am Mittwochabend trotz einzelner Leerstühle eine Fliege auf dem Rücken der Vorderfrau. 100 Leute fanden in der Kirche Platz, ab Sonntag sind es gar 200. Die Fliegen werden sich freuen.
Boswiler Sommer, bis 4. Juli