Das Theater hilft uns, besser zu leben, findet Thomas Oberender, der Intendant der Berliner Festspiele.
Thomas Oberender: Für mich ist Theater einer der schönsten Wege das Leben und die Welt zu verstehen. Und ich glaube, solange Menschen in Gemeinschaften leben, schaffen sie sich eben Bühnen, um sich ihrem eigenen Leben gegenüberstellen zu können – und es dadurch zu begreifen. In der Antike war das Theater für die Griechen der praktische Gottesdienst. Für uns heute ist es die eine vergleichsweise preiswerte und flexible Art, wie man sich seinen Ort in der Welt ohne Gott erklären kann.
Thomas Oberender (Jg. 1966) ist der Intendant der Berliner Festspiele. Unter dessen Dach finden Festivals, Kunstausstellungen, Akademieprogramme und Gastspielreihen in ganz Berlin statt. Beim nun endenden Theatertreffen werden jährlich die zehn besten deutschsprachigen Stücke eingeladen. Heuer waren darunter zwei Schweizer Produktionen aus Basel und Zürich. Oberender ist ein profilierter Theaterwissenschafter, schreibt selber Stücke und Bücher, und war, unter viel anderem, von 2005 bis 2006 Chefdramaturg am Schauspielhaus Zürich. (spe)
Das Theater ist ein Allesfresser, der alle anderen Kunstformen integrieren kann. Das Buch ist ein privates Vergnügen; Theater ist immer ein öffentliches Erlebnis: ein grosses Ritual, das Menschen erfunden haben, um das, was sie zur Gemeinschaft macht, gemeinsam zu erleben.
Im Gegenteil. Das Theater erfährt im Moment sehr viel mehr Aufmerksamkeit als noch vor einiger Zeit. Wenn Sie sich vor Augen führen, was für neue Technologien gerade erfunden werden: Virtual oder Augmented Reality, 360-Grad Videos. All die Leute, die das entwickeln, schauen plötzlich wieder zum Theater und versuchen, da zu lernen, wie man Geschichten erzählt. Es entsteht gerade die Geburt eines neuen Mediums. Und da kuckt man sich bei so ganz alten Medien, die schon so viele Tricks, so viele Verwandlungen hinter sich haben, ab, wie es gehen könnte. Wie erzählt man ohne Schnitt? Wie in einer Welt, die einen rundum umgibt?
Nein, gar nicht. Das Theater verwandelt sich einerseits selber ständig. Anderseits hat es ein unersetzbares Moment: Die Welt zu proben. Diese seltsame Konstruktion von Zeit und Raum: Dass es jetzt spielt, obwohl es was wiederholt, dass es hier stattfindet, obwohl es de facto woanders ist. In dieser Präsenz-Erlebnisform gibt es das in keinem anderen Medium.
Ja, sehr. Das ist das Allerschönste überhaupt. Dafür gehe ich ins Theater.
Es ist wie eine Sprache, die auch nie ausgesprochen ist, sondern sich verjüngt und verändert.
Vor wenigen Tagen sah ich eine verblüffende Aufführung namens «Trans-» der dänischen Compagnie «two-women-machine-show». Das war eine Form von Theater, wie ich sie noch nie gesehen habe. Eine Bühne, auf der man selber sitzt. Und ein Gegenüber: Vier Performer, die zurückblicken. Das Stück handelt davon, was sie sehen, während sie vor uns stehen. Und da sehen sie uns. Und so werden wir das Stück. Aufregend und jeden Abend anders.
Auch in der Bildenden Kunst und der Musik gibt es diese Tendenz: Dass man den Dingen nicht gegenübersteht, sondern in sie eintritt. Das hat wiederum mit der digitalen Kultur zu tun.
Man hofft das. Ich glaube, dass Theater immer durch einen Umweg relevant wird. Es ist kein direkt politisches Medium, keine Partei. Aber Theater selber verwandelt die Welt und überführt sie in einen anderen Zustand, eine andere Form von Zeit und Ort. Daran vermag eine Gesellschaft sich erkennen. Das kann von politischem Nutzen sein. Und de facto ist es so, dass in politischen Krisenzeiten immer sehr interessantes Theater entsteht.
Ja, ich hab mal ein Buch darüber geschrieben: «Leben auf Probe». Theater ist der einzige Ort der Welt, wo Sie das Leben so leben können wie das echte - und Sie können es wiederholen. Unser Gespräch ist vorbei, wenn Sie auf den roten Punkt drücken. Im Theater fangen wir wieder von vorne an, sprechen dieselben Sätze, befinden uns in derselben Situation nochmal. Und können klüger sein, mit der Situation spielen. Ich glaube, dafür haben das die Menschen mal erfunden: Um ihr Leben in jede Richtung auszuprobieren.
Ja eben! Man trifft eine gewisse Verabredung, aber jedes Mal ereignet sich das etwas anders. Wie man dahingekommen ist, hat viel damit zu tun, dass man diese Sätze schon in jeder erdenklichen Haltung gesprochen hat, bevor eine bestimmte Festlegung erfolgt ist.
Ein intensiveres, klügeres, freieres Erfahren von Leben. Im Leben wird man ja immer bestraft, wenn man etwas falsch macht. Im Theater nicht. Das betrifft jetzt vor allem das Theater machen. Jede Form von Streit, Liebe, Erkenntnis, beschenkt Sie dort mit einer Erfahrung von Leben, die das Leben selbst nicht bereithält.
Ja, sehr.
Ich glaube, Milo Rau zum Beispiel ist ein internationaler Superstar geworden. Christoph Marthaler ist es. Barbara Frey ist wunderbar. Simon Stone stammt auch aus Basel. Es ist schon ein Land, aus dem viele wichtige Künstler kommen.
Der Applaus ist kürzer, das Publikum ein bisschen undankbarer.
Sie haben ja viel bezahlt, warum sollte man da noch lange klatschen.
Was man von der Schweizer Graphikerszene sagen kann, dass sie vielleicht die interessanteste Europas ist, würde ich von der Theaterszene nicht sagen. Es gibt sehr gute Arbeitsbedingungen. Es gab Zeiten – Düggelin am Theater Basel, Marthaler am Schauspielhaus Zürich – da war die Schweiz für die deutsche Theaterszene ein Mekka. Vier mal Theater des Jahres in Folge; da hat man sehr nach Zürich geschaut. Diese grosse, widerständige Rolle, die ein Künstler wie Marthaler spielt, der auf eine andere Zeit, eine andere Unnützlichkeit von Theater besteht. Das war leitbildhaft. Auch durch die Neugewinnung einer Spielstätte wie den Schiffbau - und damit neuer Theaterformen.
Naja, Rimini Protokoll ist ja auch aus der Schweiz. Rimini Protokoll ist vielleicht die grösste Erfindung der letzten 20 Theaterjahre. Wenn Sie nach China fahren, kennen wenige Thalheimer, aber Rimini Protokoll und deren interaktives Theater kennen alle.
Diese Compagnie hat ein anderes Prinzip von Theater in die Welt gebracht. Aber inwiefern die Schweiz, vielleicht mit ihrer Förderung, dazu beigetragen hat, kann ich nicht sagen. Oder Hildesheim, wo die Leute von Rimini Protokoll Theater studiert haben.
Es existiert eine besondere Form der Verletzlichkeit im sympathischen Sinn. Sie ist ja immer in einer Situation des Kleinen gegen die Grossen. Aber wenn das Vertrauen da ist, sind ganz viele Wege möglich. Und es gibt ein hohes Mass an Verwantwortung dem Mitbürger gegenüber. Im Alltagsleben wird das bisweilen als eine ständige Pädagogik spürbar, man wird viel erzogen. Aber das kann man auch anders betrachten: Es ist einfach nicht egal, wie man zusammenlebt; es geht fast bis zur Überfürsorglichkeit. Es gibt eine grosse Angst vor dem Fremden und Erschreckenden. Deshalb haben Leute wie Marthaler eine Sprache gefunden, provozierend zu sein, ohne zu belehren. Aber eben: anarchischer gehts fast nicht.
Ja, muss man so sagen. Dadurch wurde es Legende.
Oft. Man lacht oft, aber weint selten.
Das ist auch ein sehr intimes Moment. Wenn Sie zehn Tagen Festival hinter sich haben, kommen Ihnen schneller die Tränen, weil man erschöpfter ist.