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Scheu vor familiärer Nähe: Aus der Begegnung von Enkelin und Grossmutter schafft die Autorin Fanny Wobmann eine starke Frauenstimme.
Ihre Grossväter hat sie nie gekannt. Von ihren Grossmüttern ist die eine gestorben, die andere lebt noch. Fanny Wobmann kennt die Fakten ihrer Leben. Sie weiss, wann sie wo gewohnt haben, wie sie gearbeitet haben, wie viele Kinder sie bekommen haben. Andere Dinge weiss sie nicht. In ihrem Roman «Am Meer dieses Licht» lässt sie ihre Erzählerin Laura über deren Grossmutter sagen: «Ich schaffe es nicht, mir vorzustellen, wie sie aus der Dusche kommt, sich zum Schlafen neben ihren Mann legt, ihm die Hände leckt, die Zehen oder den Bauch, vor Vergnügen stöhnt oder wie sie untätig in der Sonne liegt, wartet, bis die Strahlen ihre Haut durchdringen, bis sie den Sommer spürt, die Wärme.» Es gebe diese Liebe zu den Grosseltern, die von der familiären Nähe herrührt, sagt die Autorin. Gleichzeitig gebe es aber auch eine grosse Scheu, über Gefühle zu sprechen. Man kennt sich und gleichzeitig kennt man sich eigentlich nicht. Davon handelt ihr Roman. Fanny Wobmann stellt ihn am diesjährigen Literaturfestival Leukerbad vor.
Vom 29. Juni bis 1. Juli findet das 23. Internationale Literaturfestival Leukerbad statt. Namhafte Autorinnen und Autoren wie Péter Nádas und Felicitas Hoppe oder aus der Schweiz Christina Viragh, Jürg Halter, Arno Camenisch und Melinda Nadj Abonji sind eingeladen. Daneben legt das Festival Schwerpunkte auf das Poetische und auf die Natur und öffnet ein Schaufenster auf die Reihe «Naturkunden» im Verlag Matthes & Seitz. Fanny Wobmann stellt ihren Roman gemeinsam mit ihrer Übersetzerin Lis Künzli vor. Info: www.leukerbad.ch
Wir treffen die Westschweizer Autorin in der Altstadt von Neuchâtel. Die 34-Jährige wohnt um die Ecke, oft kommt sie in dieses Café zum Schreiben. Auch heute arbeiten Leute im ersten Stock. Auf dem Balkon bringt ein Wind anmutige Leichtigkeit in den heissen Sommertag. Frisch und unbefangen erzählt Fanny Wobmann von Bezügen zu ihrem eigenen Leben. «Die alte Frau im Buch ist eine Mischung meiner beiden Grossmütter», sagt sie.
Die Nachricht von deren Sturz erreicht die Erzählerin Laura, als sie in England einen Sprachaufenthalt verbringt. Nach der Heimkehr sitzt Laura viele Stunden am Bett im Spitalzimmer, wo die alte Frau jeden Tag mehr im Getriebe des Pflegesystems versinkt. In den Stunden des Schweigens, des Wartens, der ungelenken Worte führt die Autorin werdendes und vergehendes Leben zusammen. «Ich wollte der Generation meiner Grossmutter eine Stimme geben», sagt Fanny Wobmann. «Diese Frauen, die ihr Leben um das Leben ihres Mannes herum gebaut und sich selbst dabei als Frau vergessen oder gar ausgelöscht haben.»
Genau das tut Laura nicht. In ihrem Sprachaufenthalt in England entkommt sie der winterlichen Strenge des Hochlands von La Chaux-de-Fonds und entdeckt an der Südküste Englands eine grosse Freiheit am Meer. Laura lässt sich treiben und klopft ihren Körper auf Gefühle ab. Aus den Augenwinkeln beobachtet sie am Nudistenstrand einen Mann, sieht dessen Pobacken wie zwei rote Bälle zappeln, will wissen, wie behaart er ist, und der Druck der Kiesel gegen ihre Brüste hat etwas Sexuelles. In präzisen Details wie diesen legt die Autorin den Fokus ganz auf die Empfindungen ihrer Figur. «Ich wollte jedes Psychologisieren vermeiden», betont sie. Lauras Zusammenkommen mit dem Strandmann hat etwas befremdlich Zufälliges, das sich jeglichem Skript einer romantisierenden Liebe entzieht. Etwas weniger zufällig ist ihr Zusammenkommen mit der Englischlehrerin. Laura sagt: «Ich bin wie ein Schwan. Ich stecke meinen Schnabel in alle diese Welten, in den Teich geworfen mit dem Geräusch von Zeit.» Aber sie benennt, was ihr gefällt, was sie ekelt, was sie sich wünscht.
Ihr Blick auf ihre sterbende Grossmutter ist genauso detailgenau und unvoreingenommen. Auf einem ihrer letzten Gänge in die Cafeteria des Spitals werden deren Pantoffeln zu «zwei ängstlichen kleinen Nagetieren, deren Fell über einen gefrorenen See schleift». Nicht von ungefähr tauchen oft Tiere oder Witterungen in den sprachgewaltigen Bildern auf. Sie betonen die bäuerlich-ländliche Herkunft. Und sie heben die verborgene animalische Seite des Körpers hervor. «Ich wollte von Körpern jenseits der polierten Oberflächen sprechen», sagt die Autorin. «Bei der Geburt und beim Tod reagiert der Körper unkontrolliert und lässt Blut und andere Flüssigkeiten entweichen.» Lauras Blick ist ehrlich, oft roh, unerwartet, manchmal schockierend. Lässt man sich auf diesen Blick ein, löst er sich jedoch in fast zärtlicher Annahme und Hinwendung auf.
«Ich bin eine Frau, daher ist es nur natürlich, dass ich aus weiblicher Sicht schreibe», sagt Fanny Wobmann. Sie hat Soziologie studiert, will aber ihren Text nicht als politisches Programm verstanden wissen. «Das ist ein zu grosses Wort.» Und doch ist das Studium eine wichtige Grundlage für ihr Schreiben. Rückhalt und Unterstützung findet sie bei der von ihr mitbegründeten Gruppe AJAR, die Texte im Kollektiv verfasst und mit Performances die Literaturszene der Romandie in Bewegung bringt. Daneben schreibt sie fürs Theater. Fanny Wobmann mag den Wechsel zwischen diesen verschiedenen Welten. «Am Meer dieses Licht» ist ihr zweiter Roman, der erste in deutscher Übersetzung.
Mit dem Roman begonnen hat sie, als sie selbst schwanger war. Mittlerweile ist ihr Bub vier Jahre alt. Auch Laura im Buch ist mit einem Jungen schwanger, hätte aber lieber ein Mädchen. «Vielleicht weil sie ihre Erfahrungen einem Mädchen besser mitteilen könnte», sagt die Autorin. Und fügt unbekümmert hinzu: «Nun wird sie diese einem Jungen mitgeben.» Leichten Fusses hüpft sie nach dem Gespräch im Sommerkleid davon. «Für einmal habe ich den Eindruck, der Mittelpunkt eines natürlichen Flusses zu sein, einer unaufhaltsamen Welle, die uns vorwärts schiebt», lässt sie ihre Figur Laura sagen. Mit «Am Meer das Licht» hat Fanny Wobmann einen Roman geschaffen, der mit der Poesie seiner Bilder und der beiläufig selbstbewussten Frauenstimme besticht.
Fanny Wobmann: «Am Meer dieses Licht», Limmatverlag, 152 Seiten.