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Heute findet der Trauerakt für Helmut Kohl statt, den «Kanzler der Einheit». Doch wie einig ist eigentlich das zusammengewachsene Ost- und Westdeutschland?
Auf dem ehemaligen Todesstreifen an der Bernauer Strasse in Berlin beginnt in wenigen Wochen die Ernte. Roggen wächst, wo noch vor drei Jahrzehnten scharf geschossen wurde. Vor über zehn Jahren wurde mitten in der Gedenkstätte, dem Ort der Erinnerung an die deutsche Teilung, erstmals Getreide angepflanzt. Als Kunstprojekt. Heute ist die Ernte nicht mehr nur symbolischer Natur: Der Roggen wird zu Broten, Brötchen und Oblaten verarbeitet. Ein kleiner Teil wird gar zum «Fine Berlin Wall Whiskey» destilliert.
Ein Getreidefeld mitten in Berlin. Zwar nicht unbedingt das, was Helmut Kohl damals mit «blühenden Landschaften» meinte, als er von der Zukunft des Ostens sprach. Aber doch Beweis, dass das Leben heute ein anderes ist. Als Kohl 1982 Kanzler der Bundesrepublik Deutschland wurde, patrouillierten Soldaten mit durchgeladenem Gewehr entlang der innerdeutschen Grenze. Bei Kohls Auszug aus dem Bonner Kanzleramt 16 Jahre später war die Mauer Geschichte. «Einigkeit und Recht und Freiheit», war nun das Motto. Für alle Deutschen. Zumindest oberflächlich. Denn die Ressentiments waren auf beiden Seiten gross. Und nicht nur die: Dem in drei Jahrzehnten Sozialismus heruntergewirtschafteten Osten musste erst mal auf die Beine geholfen werden.
Die Unterschiede in der Wirtschaftsleistung und der Verteilung von Vermögen zwischen Ost und West waren gewaltig. Vor allem gebildete junge Frauen machten sich bereits in den ersten Jahren nach der Wende in Richtung Westen auf, was nicht gerade zur Verbesserung der Lage in den neuen Bundesländern beitrug. Andersherum floss Geld. Doch trotz Milliardensummen, die der Westen in den darniederliegenden Osten steckte, war von Kohls berühmten «blühenden Landschaften» in den 90ern nicht viel zu sehen – was wiederum die Ressentiments auf beiden Seiten verstärkte: Hier die überheblichen Wessis, dort die undankbaren Ossis. Unter der Oberfläche der Einheit brodelte es. Ein Land, ein Graben. Die Mauer war weg. Jene im Geiste nicht. Wie könnte sie auch? Die Ungleichheit zwischen Ost und West spaltete die Gesellschaft im vereinten Deutschland.
Wer verstehen will, wie gross die Bruchlinie entlang der ehemaligen Ost-West-Grenze heute noch ist, muss freilich das historische Erbe der DDR berücksichtigen. Doch das allein reicht nicht. Denn «gespaltene Gesellschaft» ist in vielen Staaten – Deutschland eingeschlossen – heute quasi zum geflügelten Wort geworden. Jeder kennt sie, in vielen Ländern ist sie daheim, beklagt, gefürchtet und nach jeder Wahl oder Abstimmung aufs Neue bemüht. Die Briten etwa stimmten für den Brexit – wie konnte das passieren? Die Erklärung: Aufstand der Abgehängten, man hat sich entfremdet, ein bisschen (Finanz-)Zentrum gegen Peripherie, Arm gegen Reich. Gänzlich erklären kann zwar keine dieser Gegenüberstellungen das Resultat – eines aber ist nicht von der Hand zu weisen: Die Briten sind gespalten.
Und das geht längst nicht nur den Briten so. Ob Donald Trump oder der Aufstieg (und die vorübergehende Zähmung) der Rechtsausleger in Europa – hinter jedem Populisten steht eine gespaltene Gesellschaft. Oftmals weiss man indes nicht so recht, wer sich da eigentlich auf den jeweiligen Seiten gegenübersteht: Abgehängte gegen Globalisten? Arm gegen Reich? Rassisten gegen Weltoffene? Eine scharfe Trennlinie kann nirgends gezogen werden.
Es ist daher verlockend, die alte Ost-West-Kerbe hervorzunehmen, um zumindest in Deutschland eindeutige Erklärungen für heutige Spaltungen zu finden. AfD und Pegida? Ostdeutsche Probleme! Von der Hand zu weisen ist das freilich nicht komplett. Denn unbestritten hatten die «Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes» – oder eben kurz: Pegida – im Osten deutlich mehr Zuspruch als im Westen. Gleiches gilt für die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD).
Den Nährboden dafür bietet das, was man einigermassen unelegant «Strukturschwäche» nennt. Heisst: wenig Industrie, wenig gute Jobs, wenig Perspektiven. In der Tat drohen die ländlichen Gebiete im Osten Deutschlands zu verwahrlosen. Während sich Städte wie Leipzig, Dresden oder Jena zu wahren TechnologieClustern gemausert haben, herrscht auf den Dörfern in Thüringen, Sachsen und vor allem in Mecklenburg-Vorpommern gähnende Leere. Oder, frei nach Kohl: Es blüht nicht. Das schafft Unzufriedenheit, ist aber nicht grundverschieden von der Entwicklung, die Dörfer in anderen Gegenden Deutschlands derzeit durchmachen. Die ostdeutsche Besonderheit, wenn man so will, hat mit der gesellschaftlichen Prägung zu tun: Während viele Westdeutsche im Nachgang der 68er-Bewegung den Kontakt mit Ausländern als völlig normal empfanden, fehlt diese Erinnerung in Ostdeutschland.
Anders als es der Sprachgebrauch nahelegt, fand 1990 in Deutschland keine Wiedervereinigung unter Gleichen statt. Vielmehr wurden die Bundesländer der Ex-DDR in die Bundesrepublik eingegliedert. Der grüne Abbiegepfeil blieb, genau wie das Ampelmännchen mit Hut. Doch das wars dann auch. Währung, Wirtschaft, Politik: Von nun an galten die Regeln der Bundesrepublik. Das übernommene System der westlichen Demokratie ist allerdings nicht selbsterklärend, wie Experten immer wieder betonen. Es brauche eine Gebrauchsanweisung – und mehr noch: Gewöhnung an gewisse Abläufe. Für die Bürger der neuen deutschen Bundesländer gab es all das nicht.
Dies wiederum hilft zu verstehen, warum ausgerechnet in den Bundesländern mit dem geringsten Ausländeranteil, nämlich im Osten, die Proteste gegen die vergleichsweise liberale Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Angela Merkel am schärfsten sind. Dass der in der ehemaligen DDR geborenen Merkel (genau wie dem ebenfalls ostdeutschen Ex-Bundespräsidenten Joachim Gauck) bei Besuchen etwa im sächsischen Heidenau der geballte Hass frustrierter Menschen entgegenschlägt, zeigt, dass es bei Themen wie der Aufnahme von Flüchtlingen nicht um Ossi gegen Wessi geht. Vielmehr geht es um Elitenkritik, Verachtung gegenüber der politischen Klasse – letztlich um ähnliche Themen wie beim Brexit oder bei der Wahl von Donald Trump.
Richtig ist: Einige Regionen im Osten werden abgehängt. Die Anfälligkeit für Rechtspopulismus bleibt hoch. Und die Ressentiments gegenüber dem Osten sind auch noch nicht vollends beseitigt. Unterschiede gibt es nach wie vor. Dennoch fällt es schwer, heute einen ideologischen Graben zwischen Ost und West auszumachen. Der grosse Spalt verläuft in Deutschland nicht mehr entlang der alten Ost-West-Grenze. Denn die Gruppe der «Abgehängten» erstreckt sich weit über den Osten des Landes hinaus.