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Die Sowjets waren ihre Besatzer, die Menschen lebten in einer Diktatur. Doch 30 Jahre nach dem Ende der DDR geniessen die Russen bei Ostdeutschen erstaunlich viel Kredit. Wie kann das sein?
Deutschland streitet in diesen Tagen darüber, ob das russische Gas-Projekt Nord Stream 2 gestoppt werden soll. Als deutsche Reaktion auf die mutmasslich vom russischen Geheimdienst gesteuerte Vergiftung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny.
Einhellig dazu sind die Meinungen vor allem im Osten des Landes, in den Ländern der ehemaligen DDR: Die Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer lehnen einen Baustopp für das Gas-Pipeline-Projekt unisono ab. «Wir brauchen die Ostseepipeline», sagt etwa Manuela Schwesig (SPD), Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern.
Wenn es um Russland geht, ist die Bundesrepublik im 30. Jahr der Deutschen Einheit noch immer ein geteiltes Land. Das Gros der Westdeutschen unterstützt die Sanktionen gegen Russland in Folge der Krim-Annexion, Wladimir Putin gilt vielen Westdeutschen als gefährlicher Autokrat. In einer Umfrage im Februar gaben 23 Prozent der Ostdeutschen an, sie hätten grosses Vertrauen in Putin. Bei den Westdeutschen waren es nur 6 Prozent.
Am 3. Oktober jährt sich der Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zur Bundesrepublik Deutschland (BRD) zum 30. Mal. CH Media berichtet im Vorfeld dieses historischen Tages in einer losen Serie über Schicksale, Befindlichkeiten, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Menschen in Ost- und Westdeutschland.
In Ostdeutschland geniesst der einstige «grosse Bruder» viel Sympathie. Doch woher kommt diese verständnisvolle Haltung jenem Land gegenüber, das nach dem Krieg als Besatzungsmacht aufgetreten ist und dafür verantwortlich war, dass die Menschen in der DDR in einer sozialistischen Diktatur leben mussten? Wirtschaftliche Argumente, wie sie etwa zur Verteidigung der Ostseepipeline vorgebracht werden, reichen als Begründung nur bedingt aus.
Der Handel ist seit Jahren rückläufig, 2016 beliefen sich die Importe aus Russland für die ostdeutschen Bundesländer auf gerade noch 6,7 Prozent des Gesamt-Importvolumens, lediglich 2 Prozent der ostdeutschen Güter fanden 2016 den umgekehrten Weg nach Russland. «Gesamtwirtschaftlich spielt der russische Markt für Ostdeutschland überhaupt keine Rolle mehr», sagt Joachim Ragnitz vom ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in Dresden gegenüber unserer Zeitung. Durch Fakten sei die Aufregung ostdeutscher Ministerpräsidenten nicht gedeckt.
Man hat sich befreundet, verliebt und gemeinsam gefeiert
Durch was also sonst? Liegt es vielleicht an einer Art Schicksalsgemeinschaft der Ostdeutschen mit Bürgern der ehemaligen Sowjetunion, die mit dem Wegfall der Sowjetunion ebenfalls ein Stück alter Heimat verloren haben?
Silke Satjukow ist Professorin für Geschichte der Neuzeit an der Universität in Halle-Wittenberg und eine ausgewiesene Russland-Kennerin. Sie sagt: «Ich würde nicht von Russlandfreundlichkeit der Ostdeutschen sprechen, aber Ostdeutsche haben durch ihre Erfahrungen nach dem Krieg ein anderes Verständnis für Russland als die Westdeutschen.»
Während der sowjetischen Besatzung waren 500000 Soldaten in der DDR stationiert, über all die Jahre mehrere Millionen. Es ist zu Kontakten zwischen DDR-Bürgern und Russen gekommen, die Kinder spielten miteinander, die Deutschen lernten die russische Sprache und Kultur, Soldaten arbeiteten in deutschen Betrieben. Obwohl Russen nach dem Krieg stets als Besatzer aufgetreten seien, seien auch positive zwischenmenschliche Kontakte entstanden. «Man hat sich befreundet, verliebt und gemeinsam gefeiert», sagt Satjukow.
Das Verhältnis kühlte sich nach der Wende ab, viele Ostdeutsche machten die Russen für ihre Not zu Beginn der 1990er Jahre verantwortlich. Doch ab Mitte der 90er Jahre habe sich bei vielen Ostdeutschen der bis heute anhaltenden Eindruck verfestigt, dass ihre eigene DDR-Biographie im wiedervereinigten Deutschland entwertet werde.
«Die Ossis galten plötzlich als faul, viele gerieten in Arbeitslosigkeit, es fehlte eine Anerkennung der eigenen Biographie in der neuen Gesellschaft», so Satjukow. Die Ostdeutschen suchten also nach einem Merkmal der Besonderheit gegenüber den Westdeutschen. «Das fanden viele Ostdeutsche im Verhältnis zu Russland. Denn im Gegensatz zu den Westdeutschen glaubt man im Osten, die russische Kultur und Seele zu kennen, ausserdem sprechen viele der älteren Generation auch die russische Sprache.» Das gelte paradoxerweise auch für die Jüngeren, die sogenannten «Mauerkinder».
Um die oftmals enttäuschenden Erfahrungen der eigenen Eltern «wiedergutzumachen», hielten die Jüngeren oftmals positive Erinnerungen an die DDR fest. «Sie nehmen die Erfahrungen der Eltern ernst und tragen sie weiter. Dann heisst es eben: Es war nicht alle schlecht damals.»
Diese spezifische Erfahrung bis 1990 führt laut Satjukow dazu, dass die Ostdeutschen einen eigenen Standpunkt Russland gegenüber vertreten wollen, keinen, den ihnen von den «Wessis» aufgezwungen werde. «Daraus folgt nicht unbedingt eine Russlandfreundlichkeit der Ostdeutschen, aber eine Russlandnähe, die keineswegs unkritisch ist. Viele lehnen die Krim-Annexion genauso ab wie Westdeutsche. Aber in Ostdeutschland gibt es den Reflex, das russische Handeln verstehen zu wollen, anstatt vorschnell zu urteilen.»