In Russland beginnt heute die Weltmeisterschaft. Die Einheimischen sind sich noch unsicher, was sie vom Turnier zu erwarten haben, das schon vorher von politischen Repressalien und sportlichen Pleiten überschattet war.
Der erste mexikanische Fan schwamm bereits voriges Wochenende durch den Menschenstrom an der Metrostation Lubjanka, ein kleiner Mann mit grün-weiss-rotem Schal in einer fremden Stadt, mit neugierigem, erwartungsfrohem Gesichtsausdruck. Die Moskauer aber bemerken ihn nicht, noch waren sie in ihren Alltag vertieft.
Heute wird in Moskau die Fussball-WM in Russland eröffnet. Das grösste Sportfest der Welt, einen Monat lang messen sich 32 Nationalmannschaften bei 64 Spielen in 12 Stadien, die Veranstalter erwarten 1,5 Millionen ausländischer Gäste. Der Lärm der Schlagbohrer ist verstummt, die letzten Schönheitsreparaturen vollendet, an den grossen Zufahrtsstrassen zu den 11 Spielorten stehen Polizeiwagen, in den Innenstädten patrouillieren grau uniformierte Nationalgardisten. Und der staatliche Sportkanal Match TV präsentiert stolz mannshohe Smartphones, die man auf dem Jekaterinburger Flughafen aufgestellt hat.
Es ist so weit, das Weltfussballfest beginnt, Russland aber weiss selbst noch nicht, was es davon zu erwarten hat. Vor allem, was die eigene Nationalmannschaft angeht, die keines der vergangenen sieben Spiele gewinnen konnte. Obwohl die Vorrundengegner Saudi-Arabien, Ägypten und Uruguay nicht gerade als Topfavoriten gelten, zweifelt die Öffentlichkeit, ob die Sbornaja die Vorrunde übersteht. Bezeichnend die Ballade, die der Komiker Semjon Slepakow unlängst intonierte: Darin wird Tschetschenenchef Ramsan Kadyrow zum Nationaltrainer ernannt, um Russlands WM-Ehre zu retten, er schneidet allen Spielern die Daumen ab und droht ihnen mit dem Tod, sie verlieren trotzdem wieder, der rabiate Tschetschene wendet sich resigniert ab: «Aber meine Pistole lass ich euch liegen, solltet ihr doch Gewissensbisse kriegen ...»
Ein mehrdeutiges Lied, das auch auf staatliche Repressalien in Tschetschenien und anderswo in Russland anspielt: In Grozny sitzt zurzeit der Menschenrechtler Ojub Titijew als mutmasslicher Drogendealer in U-Haft, im nordsibirischen Straflager Labytnangi aber ist der ukrainische Regisseur Oleg Senzow seit einem Monat im Hungerstreik. Senzow wurde als angeblicher Terrorist zu 20 Jahren Haft verurteilt, er fordert die Freilassung von insgesamt 63 ukrainischen politischen Gefangenen. Die russische Staatsmacht ignoriert bisher alle Proteste, Wladimir Putin aber gab gestern die letzte Parole vor dem Turnier aus: «Unser Ziel ist, dass alle Gäste vom Fussballstar bis zum einfachen Fan die Herzlichkeit und das Wohlwollen unseres Volkes spüren.» Von Gnade ist diesmal keine Rede, im Gegensatz zu den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014, vor denen man Michail Chodorkowski und zwei Aktivistinnen der Protestband Pussy Riot freigelassen hatte.
Offenbar sieht die russische Führung keinen Grund, wegen dieser Weltmeisterschaft Kompromisse zu machen. Seit 2010, als das Turnier an Russland vergeben wurde, hat sich die politische Agenda des Kremls grundlegend geändert. Damals wollte man vor allem als Sportweltmacht auftrumpfen, inzwischen aber hat man auf der Krim, in der Ostukraine und in Syrien ganz andere Siege gefeiert. Statt Goldmedaillen zählt Putin der Konkurrenz im Westen jetzt Hyperschall-Raketen vor.
Russische Oppositionelle werfen dem Kreml vor, er wolle die WM propagandistisch ausschlachten. Aber angesichts des dominierenden Selbstbildes des einsamen, stolzen und erfolgreich seine andrängenden Feinde abwehrenden Russlands klingt die Losung, man werde die «beste Fussball-WM aller Zeiten organisieren» eher harmlos. «Die Gegnerschaft zum Westen, der Russland angeblich hasst, lässt sich innenpolitisch viel besser verkaufen», sagt der Politologe Juri Korgonjuk. «Negative Gefühle wirken propagandistisch immer stärker.» Aussenpolitisch freut sich der Kreml sicher, dass die Welt vier Wochen lang über Russland redet, ohne dass dabei Giftgas, Bomben- oder Cyberangriffe im Mittelpunkt stehen. Aber auch 6000 TV-Minuten mehr oder weniger gelungenen Fussballs werden diese nicht aus dem internationalen Bewusstsein spülen. Umgekehrt hoffen liberale Beobachter, die Ausländer, die zu Hunderttausenden auch nach Saransk, Samara oder Jekaterinburg schwappen, könnten mit Frohsinn und Friedlichkeit russische Vorurteile über die westliche Welt beseitigen. Aber ein wirklicher Meinungsabtausch in den Fanzonen wird an der Sprachbarriere scheitern. Ausserdem weiss jeder, der länger in Russland gelebt hat, dass die Russen angesichts «netter» und «normaler» Westler leicht einen Trennstrich zwischen ihnen und dem «entarteten» politischen System im Westen ziehen. Diese WM wird Russland tatsächlich wenig verändern. Aber ob sie als Fussballturnier gelingt, das hängt weder von der Propaganda des Staates ab noch von seinen Sicherheitsmassnahmen. Sondern von den Fans, den vater- wie den ausländischen. Schon beim Confederations-Cup vergangenes Jahr, steckten Chilenen und Mexikaner die Russen mit ihrem Temperament an, rollten jubelnde La-Ola-Wellen durch die Stadien von Kasan und Sankt Petersburg, feierte man gemeinsame Fussballfeste, ohne dass das grosse Polizeiaufgebot dabei gestört hätte. Der Hunger der Russen auf schönen Fussball ist gross. Vielleicht erleben ja auch sie ihr Sommermärchen.
Inzwischen sind die Fans im Zentrum Moskaus nicht mehr zu übersehen. Kleine Gruppen in peruanischen, argentinischen und australischen Trikots schlendern durch die Fussgängerzone, einige Gesichter sind noch vom Jetlag zerknittert, aber schon mischt sich spanisches oder arabisches Lachen in die Gitarrenklänge der Strassenmusikanten. Ein junger Moskauer überschüttet drei lächelnde Iraner mit flüssigem Englisch, am Schnellimbiss kämpfen die usbekische Verkäuferin und zwei Senegalesen mit Hilfe eines Smartphone-Übersetzers um Verständigung. Internationale Farbkleckse machen Moskaus Alltag bunt. Aber die einzige russische Trikolore hier trägt eine junge Brasilianerin über den Schultern.
Bevor Russland mitfeiert, scheint es zuerst das Eröffnungsspiel gegen Saudi-Arabien abwarten zu wollen.