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Bei einem Giftgasangriff in Nord-Syrien sollen nach Erkenntnissen der Opposition bis zu 100 Menschen getötet worden sein.
Es sind Bilder, die einem die Sprache verschlagen: Auf der Lagefläche eines Pritschenwagens liegen, dicht aneinander gereiht, die Leichen von neun Kleinkindern und Babys. Die Toten haben keine äusseren Verletzungen. Nur an Mund und Nase sind Spuren von Schaum zu erkennen. Diese könnten ein Hinweis auf den Einsatz des Kampfstoffes Sarin sein. Das Nervengas wirkt auch über die Haut, ist unsichtbar und geruchlos – und tötet auch in geringer Konzentration innerhalb von Sekunden.
Aktivisten der syrischen Opposition machten die „syrische oder russische Luftwaffe“ für die Gasangriffe verantwortlich. Drei Stunden nach dem „Massaker“ in Chan Scheichun sei auch das Krankenhaus der nordsyrischen Stadt von Raketen getroffen und teilweise zerstört worden. Mehr als 60, nach Angaben der Rebellennachrichtenagentur „Step-News“ sogar bis zu 100 Menschen seien bei den Angriffen ums Leben gekommen. 30 Schwerverletzte sollen zur Behandlung in die Türkei gebracht worden. Auch die Oppositionsnahe „Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ bestätigte die Gasangriffe, deren verheerende Folgen durch Fotos und erschütternde Videoclips in sozialen Medien belegt werden sollen.
Da praktisch alle Quellen den Rebellen nahestehen und unparteiische Beobachter sobald keinen Zugang haben, müssen die bislang vorliegenden Erkenntnisse mit Vorsicht bewertet werden. Für die Behauptung des syrischen Militärs, man habe in Chan Scheichun eine Giftgasfabrik von Al Kaida bombardiert, gibt bisher es keinerlei Anhaltspunkte. Moralische Bedenken, chemische Waffen einzusetzen, hatten und haben weder das Regime noch die Dschihadisten. Durch die UNO dokumentiert ist der Einsatz von Chlorgas durch das Regime und den Kaida-Ableger Nusra-Front, dessen Kämpfer Chan Scheichun und andere Regionen im Nordwesten Syriens inzwischen kontrollieren.
Die syrische Opposition vergleicht die Angriffe auf Chan Scheichun mit dem Giftgas-Massaker in den Vororten von Damaskus, bei dem im August 2013 bis zu 1400 Zivilisten ums Leben kamen. Auch damals wurde Sarin eingesetzt. Die amerikanische Luftwaffe bereitete eine gross angelegte Vergeltungsoffensive gegen das Assad-Regime vor, die von US-Präsident Barack Obama völlig überraschend gestoppt wurde. Was war geschehen?
Vom britischen Geheimdienst untersuchte Bodenproben ergaben, dass das bei Damaskus eingesetzte Sarin nicht aus Beständen der syrischen Armee stammte. Assad Truppen verfügten zwar über Sarin, aber in einer anderen chemischen Zusammensetzung. Die Briten informierten daraufhin ihre amerikanische Kollegen, die ihre Erkenntnisse sofort ans Weisse Haus weiterleiteten.
Drei Monate vor dem Giftgas-Massaker in Damaskus waren 13 Mitglieder der Nusra-Front bei Adana verhaftet worden. Die türkische Polizei hatte bei ihnen zwei Kilogramm Sarin entdeckt. Eine Aufklärung des Skandals wurde vom türkischen Geheimdienst verhindert. Er veranlasste die sofortige Abschiebung der Inhaftierten nach Syrien. Die Redaktion der liberale Zeitung Zaman, die über den Sarin-Fund ausführlich berichtet hatte, wurde mehrfach gestürmt und nach dem gescheiterten Militärputsch im Juli 2016 auf Regierungslinie gebracht.
So kam die „Wahrheit“ über die Giftgasangriffe in Damaskus bis heute nicht ans Tageslicht: War es ein Massaker des Assad-Regimes oder ein Versuch der vom türkischen Geheimdienst unterstützten Nusra-Front, mit einer Operation unter falsche Flagge die US-Armee in den Syrienkrieg zu ziehen?
Vermutlich wird es auch in Chan Scheichun noch eine Zeitlang dauern, bis die "Wahrheit" über die entsetzlichen Ereignisse bekannt ist. Die oppositionelle syrische "Nationalkoalition" verlangte gestern eine sofortige Untersuchung dieses "furchtbaren Verbrechens" durch die Vereinten Nationen. Fortgesetzte Tatenlosigkeit der Weltorganisation würde vom Assad-Regime als ein Freibrief für künftige Massaker interpretiert werden.