Der CSU drohen bei den Landtagswahlen in Bayern empfindliche Verluste. Das politische Erdbeben könnte sogar das Kanzleramt erreichen.
Katrin Ebner-Steiner, die Spitzenkandidatin der AfD-Niederbayern, ist der Star ihrer Partei hier in Deggendorf. Beim AfD-Stand in der Altstadt spricht sie mit Bürgern über die anstehenden Wahlen, um sie herum bilden Passanten einen Halbkreis. Eine Gruppe jugendlicher Migranten hat sich etwa 20 Meter vom Stand entfernt vor dem H+M postiert, einer zündet mit einem Feuerzeug einen AfD-Flyer mit Ebner-Steiners Konterfei an. Die Spitzenkandidatin verliert die Fassung: «Unerhört! So etwas hat es zuletzt 1933 in Deutschland gegeben. Wir holen die Polizei!». Die Jugendlichen ziehen eiligen Schrittes von dannen, ein AfD-Mitarbeiter verständigt die örtliche Polizei. Aufregung pur.
Deggendorf in Niederbayern, 33000 Einwohner, Vollbeschäftigung, Ausländeranteil 7,3 Prozent, durchschnittliches Bruttoeinkommen, hohe Mieten. Das nahe BMW-Werk in Dingolfing und die Zulieferer-Firmen der Autobranche haben Wohlstand nach Niederbayern gebracht. Deggendorf hat eine Fachhochschule mit 7000 Studierenden und sieben Kirchen, davon fünf katholische. Die historische Stadt wird auch «Tor zum bayerischen Wald» genannt. Nach Tschechien sind es nur wenige Kilometer, nach Österreich knapp 60. Doch so gut die Voraussetzungen im Landkreis Deggendorf auch sein mögen. Hier droht am 14. Oktober ein politisches Erdbeben.
Katrin-Ebner Steiner lehrt die CSU das Fürchten. Bei den Bundestagswahlen 2017 hat die 40-Jährige für die AfD im Landkreis Deggendorf über 17 Prozent der Erst- und mehr als 19 Prozent der Zweitstimmen geholt – in einem Wahllokal in Deggendorf gar mehr als 30 Prozent. Medien aus dem ganzen Land, ja sogar die «New York Times», strömten in die idyllische Kleinstadt an der Donau, um von dem kleinen Provinznest mit seiner starken AfD zu berichten. Der Erfolg der AfD im schwarzen Stammland – bayernweit holte die Partei 12,4 Prozent – sorgt bei den Christlich-Sozialen für grosse Nervosität. In knapp einer Woche könnte die AfD ihren Erfolg gar ausbauen. In Umfragen kommt die Partei auf 14 Prozent, die CSU, die sich über Jahre hinweg das Alleinregieren gewohnt war, schafft es auf für ihre Verhältnisse läppische 34 Prozent. Die Grünen kommen auf sensationelle 17 Prozent.
Ebner-Steiners Erfolg wäre ohne die Ereignisse von 2015 nicht möglich gewesen. Damals sind hier täglich mehrere hundert Flüchtlinge angekommen, in Deggendorf mussten sie Zelte für die Schutzsuchenden aufstellen, Turnhallen wurden zu Schlaflagern umfunktioniert, die Erstaufnahme-Einrichtung beim Bahnhof war überfüllt. Ein Grossteil der über 800000 Flüchtlinge im Jahr 2015 reiste über Bayern nach Deutschland ein. Das Bundesland, auch Deggendorf, war im Ausnahmezustand. Das sorgte in der Bevölkerung für Unruhe, es gab bald wüste Gerüchte in der Stadt, wonach die Flüchtlinge den Einheimischen besser gestellt würden. Dass Frauen nachts besser nicht mehr alleine unterwegs sein sollten in der Altstadt. Die AfD befeuerte diese Ängste, wetterte gegen den «Asyltsunami». Die CSU versuchte es mit ihrem Parteichef Horst Seehofer vergeblich mit der Obergrenze. Für viele in Deggendorf war die CSU nun plötzlich Teil des Problems, weil die Partei mit Kanzlerin Angela Merkel in einer Grossen Koalition sass.
Die Flüchtlingsströme von damals sind Geschichte. Obwohl sich die Menschen in Deggendorf wieder mit den hohen Mieten und der Rentenunsicherheit beschäftigen, dominiert die Flüchtlingsfrage den Landtagswahlkampf. Das ist nicht nur wegen der AfD. Die CSU selbst hat diese Themen aufgegriffen, in der Meinung, die Rechtskonservativen damit in die Schranken zu weisen. Als einige hundert Flüchtlinge von der Deggendorfer Erstaufnahme-Einrichtung im Dezember 2017 gegen die Abschiebung eines Heimbewohners und schlechte Zustände in der Unterkunft demonstriert hatten, wetterte der CSU-Fraktionsvorsitzende im Deggendorfer Stadtrat, Paul Linsmaier: «Wer sich als Flüchtling über unsere Gastfreundschaft beschwert, sollte nicht demonstrieren, sondern sofort nach Hause zurückkehren.»
«Wer die Marke AfD kopiert», sagt nun Christian Moser, 41, CSU-Oberbürgermeister von Deggendorf, «der stärkt die Marke AfD.» Neben ihm Platz genommen hat Paul Linsmaier, ihm wird in der CSU eine grosse Zukunft vorausgesagt. Der 35-Jährige nickt, als sein Parteikollege diesen Satz sagt. Beide wissen, dass die Taktik der Partei, die AfD zu kopieren, fehl geschlagen ist. Auch Ministerpräsident Markus Söder, der in 30 Minuten hier in der Deggendorfer Stadthalle auftreten wird, hat das kapiert. Asyltourismus und dergleichen, auf solche Scharfmacherei verzichtet der Ministerpräsident inzwischen. Woher aber der Erfolg der AfD? Beiden fällt eine Analyse schwer. Es läuft ja gut im Landkreis Deggendorf, die Flüchtlinge sind nicht mehr das ganz grosse Problem.
Als sie vor einigen Tagen einen Info-Abend zur Erstaufnahme-Einrichtung organisierten, kamen von 2400 geladenen Anwohnern knapp 150. «Und die haben sich nicht über die Menschen an sich, sondern über den Lärm aus der Unterkunft beschwert», sagt Oberbürgermeister Christian Moser. Beide Politiker sind überzeugt, dass vor allem die Probleme in Berlin bis nach Deggendorf ausstrahlen. Die Streitereien in der Grossen Koalition. Um die Rückführung von Flüchtlingen. Und dann die im letzten Moment verhinderte Beförderung von Geheimdienstchef Hans-Georg Maassen. «So was versteht dann wirklich niemand mehr», sagt Moser. Die Wahl vom 14. Oktober könnte ein Votum sein gegen die Regierung Merkel, und – ja auch das – gegen Innenminister und CSU-Chef Horst Seehofer.
Söder trifft mit Verspätung in der Stadthalle ein, «der liebe Markus», wie er begrüsst wird, es gibt von den 200 Gästen im voll besetzten Saal warmen Applaus. Söder spricht mehr als eine Stunde lang, völlig frei, immer mal wieder streut er einen Scherz ein. Er spricht von Bayern, dem sichersten Bundesland, dem wohlhabendsten, dem Bundesland mit dem besten Schulsystem, mit der niedrigsten Jugendarbeitslosigkeit in Europa. «Ich gebe zu: Die Umfragen machen einen gestandenen Bayern nicht glücklich», sagt Söder. Die AfD streift er nur kurz in seiner Rede. «Wer mit NPD, Pegida und gewaltbereiten Hooligans marschiert, der will kein sicheres Land haben, der will es destabilisieren.» Er vermeidet schrille Töne, zitiert sinngemäss Altbundespräsident Joachim Gauck: «Im Herzen bleibt der Wunsch zu helfen ohne Grenzen – aber in der Realität sind den Herausforderungen Grenzen gesetzt.» Söder redet viel. Er lobt Parteigenossen in Berlin, Bayern, Deggendorf. Wen er nicht erwähnt, nicht ein einziges Mal: Parteichef Horst Seehofer.
Vielleicht legen sie bei der CSU ihren Parteichef tatsächlich schon mal pro forma als Opfer zurecht. Jemand muss dafür gerade stehen, wenn die CSU abtaucht. In München werden sie die Bundespolitik für die Misere verantwortlich machen. Wer bietet sich da besser an als Parteichef Seehofer. Der 69-Jährige ist bei der Basis ohnehin nicht mehr sonderlich beliebt. «In Bayern ist Seehofer untendurch», sagt ein 77-jähriger Mann, seit 50 Jahren Mitglied der CSU. So oder so sind die Bayern-Wahlen für die Bundespolitik von höchster Bedeutung. Eine Schlappe der CSU, zwei Wochen später Verluste für die CDU bei den Wahlen in Hessen – und in der Union droht mächtig Unruhe, vielleicht im Dezember sogar eine Revolte. Angela Merkel kandiert dann in Hamburg für das Amt als Parteivorsitzende.
Marktplatz Deggendorf. Katrin Ebner-Steiner ist wieder versunken in ein Gespräch mit einem Bürger, die zündelnden Teenager hat sie vergessen. Auch deshalb, weil sich die Polizei von Deggendorf Zeit nimmt. Eine halbe Stunde nach dem Anruf ist noch keine Streife in Sicht. Der leicht angeschwärzte Flyer von der AfD liegt auf dem Boden beim Eingang zum H+M. «Familie, Heimat, Tradition», steht darauf in grossen Lettern. Vom Wind wird der Flyer allmählich fortgetragen. Ebner-Steiner würde vermutlich sagen, dass das symbolisch ist dafür, was mit den traditionellen Werten in Niederbayern derzeit geschieht.