Kanzler Olaf Scholz kündigte am Sonntag eine «Zeitenwende» an und präsentierte in einer historischen Rede eine völlig neue Aussen- und Sicherheitspolitik. Die Bundeswehr soll mit einer Sonderzahlung von 100 Milliarden Euro modernisiert und aufgerüstet werden. Warum Deutschland so lange gezögert hat, Putin gegenüber mit Härte aufzutreten und wie die Zäsur in Deutschland wahrgenommen wird.
Die Bundeswehr mit seinen rund 180.000 Berufs- und Zeitsoldaten (2021) ist in keinem guten Zustand. Einem Angriff auf das Territorium Deutschlands - ein Szenario, das plötzlich nicht mehr abwegig erscheint - könnte Deutschland kaum alleine standhalten. Ex-Nato-General Egon Ramms sagte dem ZDF auf die Frage, ob die Bundeswehr das Land verteidigen könne: "Kurze, klare Antwort: Nein." Auch Heeresinspekteur Alfons Mais ist besorgt: «Die Bundeswehr steht mehr oder weniger blank da.» Laut dem Verteidigungsministerium (Dezember 2021) sind 23 Prozent der Waffensysteme, 29 Prozent der Kampfflugzeuge und 60 Prozent der Bundeswehr-Helikopter nicht einsatzbereit, Kanzler Olaf Scholz will die Armee angesichts der Bedrohung massiv modernisieren und aufrüsten, auch mit neuen Jets. Dafür soll ein Sondervermögen für die Bundeswehr von 100 Milliarden Euro geschaffen werden.
Deutschland vollzieht mit der Aufrüstung und auch den Waffenlieferungen an die Ukraine - Panzerfäuste, Granaten, Abwehrraketen - eine komplette Kehrtwende der bisherigen Aussen- und Sicherheitspolitik. Vor allem Grüne und Sozialdemokraten verfolgten über Jahrzehnte einen pazifistischen Ansatz in der Russland-Politik. Selbst in der zuvor 16 Jahre lang regierenden Union aus CDU und CSU war das Thema Aufrüstung eher nebensächlich. Deutschland sieht sich als Verfechter der EU - auch deshalb, da Deutschland die EU als Friedensprojekt versteht.
Mit Blick auf die verheerende Geschichte des Landes war das Thema Aufrüstung in weiten Teilen der Politik bislang ohne grössere Priorität. Gerade gegenüber Russland sieht sich Deutschland zudem in einer besonderen historischen Verantwortung. Kein Land hatte im Krieg gegen den Nazi-Terror so viele Opfer zu beklagen wie die damalige Sowjetunion (ca 23 Millionen), in keinem Teil der Welt war der Krieg, der auch die Ausrottung von Juden und Zivilisten beinhaltet hatte, barbarischer und grausamer als in der Sowjetunion.
Aussenministerin Annalena Baerbock und Klimaminister Robert Habeck verteidigen die Rüstungsausgaben und die Waffenlieferungen. Wirtschaftsminister Robert Habeck sagte:
«Die Entscheidung ist richtig, aber ob sie gut ist, das weiss noch niemand.»
An der Parteibasis macht sich angesichts der für den Klimawandel veranschlagten, jährlichen Investitionen von 50 Milliarden Euro die Sorge breit, dass der Klimaschutz in der Priorität nach hinten fallen könnte. Allerdings hat die Bundesregierung auch angekündigt, sich aus der Abhängigkeit von russischem Öl und Gas befreien zu wollen. Deutschland bezieht heute 55 Prozent seiner Erdgasimport aus Russland, bei Öl liegt der Anteil bei 35 Prozent. Die Abhängigkeit soll unter anderem durch einen forcierten Ausbau der Erneuerbaren Energien vollzogen werden.
Die drei letzten Atomkraftwerke in Deutschland sollen Ende dieses Jahres vom Netz, der Kohleausstieg eigentlich bis spätestens 2038 vollzogen sein. Doch um die Abhängigkeit von russischen Energiereserven zu senken, schliesst Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck eine Verlängerung der Laufzeiten von Kohle- und Atomkraftwerken in Deutschland nicht mehr aus. Eine weitere Nutzung der Kernenergie werde er nicht «ideologisch abwehren», sagte Habeck am Sonntag. Sein Ministerium prüfe dies. Bei den Kohlekraftwerken sei die Situation die gleiche.
Der Kanzler wird für seine Entschlossenheit in den meisten Medien gelobt. Die konservative FAZ schreibt unter dem Titel «Scholz hat den Schuss gehört»: Putins «imperialistischer und chauvinistischer Angriffskrieg» in der Ukraine habe der Ampel-Koalition vor Augen geführt, wie wirkungslos die bisherige Strategie - auch der Vorgängerregierungen - in der Konfrontation mit Put gewesen sei. Und weiter:
«Wenn es nicht zynisch klänge, müsste man dem russischen Präsidenten fast dankbar dafür sein, die deutsche Aussen- und Sicherheitspolitik aus ihrem Wolkenkuckucksheim auf den Boden der Tatsachen geholt zu haben.»
Selbst die linke Berliner TAZ lehnt Waffenlieferungen und Aufrüstung nicht per se ab - die Ukraine könne eine Ausnahme für eine Doktrin sein, die weiterhin zu gelten habe. Nämlich, «dass Diplomatie der Königsweg zur Lösung aller zwischenstaatlichen Konflikte bleiben muss.» Die linksliberale «Süddeutsche» spielt auf das von der Wehrmacht über Russland und die Ukraine gebrachte Unheil von vor 80 Jahren an. Doch im aktuellen Fall sei eine Besinnung auf Zurückhaltung und Diplomatie nicht mehr angebracht. «Die Lehren aus der Geschichte als die bestimmende Maxime zu betrachten, hätte die Bundesregierung politikunfähig gemacht.» Weite Teile der Bevölkerung stellen sich angesichts der russischen Aggression hinter die Rüstungspläne. AfD und Linkspartei lehnen diese allerdings ab.
Seit der Wiedervereinigung 1990 ist der Anteil an den deutschen Verteidigungsausgaben tendenziell gesunken und erst in den letzten Jahren wieder leicht gestiegen, auf zuletzt etwa 1,5 Prozent des Bruttoinlandproduktes. Der deutsche Verteidigungsetat 2021 betrug knapp 47 Milliarden Euro. Noch im Kalten Krieg lag der Anteil der Verteidigungsausgaben der damaligen BRD am BIP bei über 3 Prozent.
Donald Trump forderte Deutschland mehrfach und mit Vehemenz dazu auf, das Zwei-Prozent-Nato-Ziel zu erreichen. Dazu schreckte er auch vor unfreundlichen Äusserungen gegenüber der damaligen Kanzlerin Angela Merkel nicht zurück. Vor dem Nato-Gipfel 2017 maulte Trump in Richtung Berlin:
«Sie wollen vor Russland beschützt werden - und trotzdem zahlen sie Russland Milliarden Dollar. Und wir sind die Deppen.»
Merkel kündigte zwar an, Deutschland wolle den Etat erhöhen. Doch es war klar, dass Merkel dies politisch nicht durchbringen würde - zu gross die Widerstände bei SPD, Linken, Grünen, selbst in Teilen der Union. Deutschland hätte die Verteidigungsausgaben laut Schätzungen bis 2024 auf fast 80 Milliarden Euro steigen müssen. Doch das Land plante Investitionen in dringend benötigte Digitalisierung, Infrastruktur und in den Klimawandel, eine akute Bedrohung der eigenen Sicherheit in Europa war bloss theoretischer Natur. Der damalige SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz lehnte das 2-Prozent-Ziel im Bundestagswahlkampf mit den Worten ab, Deutschland dürfe nicht zum «Militärbullen» im Herzen Europas werden. Auch im aktuellen Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP fehlt ein Bekenntnis zum Zwei-Prozent-Ziel.