Mein erstes Schreibheft

Martin Dürr
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Kürzlich fand ich mein erstes Schreibheft wieder. Fröllein Hoffmann, in die ich unsterblich verliebt war (sie heiratete leider einen anderen), hatte uns am ersten Schultag das «O» beigebracht. Die ersten Os haben wir aus der Zeitung ausgeschnitten und eingeklebt  – eine ideale Vorbereitung für spätere anonyme Drohbriefe. Dann mussten wir viele Os schreiben, grosse und kleine. Meine Os sehen fast alle aus wie umkippende Eier. Dazu habe ich noch einen Osterhasen gezeichnet, denn damals fing die Schule im Frühling nach Ostern an. «O-O-O – dr Oschterhaas isch dOO!» riefen wir begeistert, als wärs eine Anti-COrOna-DemO. Mein zweiter Buchstabe war dann das M. Das kannte ich schon, weil es der Anfang meines Namens ist und darum ein führender Schweizer Detailhändler an seinen Läden zu meiner Freude ein grosses M aufgehängt hatte. Meine Mutter sagte seltsamerweise trotzdem «Geh noch schnell in den Konsi». Der dritte Buchstabe war pipileicht: Einfach ein Strich von oben nach unten – und fertig ist das I. Ich habe im Heft einen Igel darunter gemalt, der aussieht, als wäre er ein «Grautier» mit Stacheln. Zeichnen war nicht so meine Stärke. Das wird dann noch viel brutaler deutlich beim A und beim L. Aus dem A machte ich ein Strichmännchen, das aber wie eine Frau mit Rock aussah. Der Löwe unter dem L scheint genmanipuliert zu sein. KOVI WO? Nach dem U (natürlich: Uhu) folgen die ersten Sätze, wobei Worte mit Buchstaben, die wir noch nicht durchgenommen hatten, mit Zeichnungen ersetzt wurden. Mein erster Satz hiess: ALI IM *Wald* (ein paar windschiefe Tannenbäume), gefolgt vom ersten bildfreien Satz: ALI MAL OMA. Da war noch keine Rede vom Kampf der Kulturen, ALI und OMA kooperierten bestens. Mit dem E (EI – endlich konnte ich meine schiefen Os sinnvoll einsetzen) und S öffnete sich für mich die Welt der Literatur. SUSI SEI LEISE ist der vielversprechende erste Satz eines Romans über eine Frau, die stets zum Schweigen gebracht wurde. Weil das Zeichnen für mich immer qualvoller wurde, lernte ich heimlich neue Buchstaben. Mein erster Thriller: EINE MAUS IM HAUS. MIAU-MIAU. SAUSE MAUS. AU. MAUS IM MAUL. Danach war ich nicht mehr zu halten. Das erste Gedicht: EIN HAUS VOR DEM WALD. KEIN GELD UND KEIN BROT. HORCHEN UND WEINEN. WARTEN UND BETEN. Dafür habe ich von der Lehrerin 5 Sterne erhalten zum Einkleben – der Nobelpreis für Literatur auf Primarstufe. Auf der letzten Seite des Heftes hatte der Herbst angefangen. DER WEISSE NEBEL SCHLEICHT UMHER UND VERSCHLUCKT ALLES, heisst es in der letzten Zeile. Rainer Maria Rilke hätte es nicht besser formulieren können. Bravo, 0 Fehler! schrieb Fröllein Hoffmann darunter, die jetzt Frau Hoffmann hiess. So, und jetzt nochmals für alle zum Mitschreiben: O-O-O – SAUS MAUS. ZIEH MASKE AN. HÖREN UND DENKEN. WASCHEN UND LÜFTEN. SCHÜTZEN UND HELFEN. FRÜHLING KOMMT WIEDER. DOCHDOCH. O-O-O – CORONA GEH K.O! Bravo, 0 Fehler! Na, das war doch nicht so schwierig, oder?