Schiblis Kopfsalat
Der grosse Herr Kleinert

Wenn das Unbewusste spricht: Ein Versprechen ist in der Regel schön, ein Versprecher hingegen, ist meist peinlich.

Sigfried Schibli
Sigfried Schibli
Drucken

Der grosse Herr Kleinert Ein naher Verwandter des Verschreibers, dem ich meine vorletzte Kolumne gewidmet hatte («Lob des Duckfehlers», bz vom 7. September 2021), ist der Versprecher. Nicht zu verwechseln mit dem Ver­sprechen, das ja ein durchaus positives Image hat. Nein, Versprecher unterlaufen einem unfreiwillig und sind einem oft unangenehm. Denn sie geben Einblicke in das Unbewusste der sprechenden (oder eben sich versprechenden) Person, und wer mag das schon frei­willig preisgeben?

Mir passierte es einmal, dass ich mich frühzeitig von einer Party abmelden wollte und zu der Gastgeberin beinahe gesagt hätte: «Darf ich mich von Ihnen verabscheuen?» ­Tatsache ist, dass ich diese Person wirklich nicht besonders mochte und nur aus Höflichkeit hingegangen war. Ich konnte das peinliche Wort noch zurückhalten, die Zensur durch die Ich-Instanz (um mit Sigmund Freud zu reden) funktionierte im letzten ­Moment gerade noch.

Als ich noch regelmässig Orgeldienst in Kirchen ver­richtete, wurde ich einmal Zeuge eines peinlichen Versprechers eines jungen Geist­lichen. Ein Freund von mir heiratete in einer sogenannten Hochzeitskirche im oberen Baselbiet und hatte mich gebeten, in diesem festlichen Gottesdienst die Orgel zu spielen. Das tat ich selbstverständlich gerne. Der Pfarrer begann seine Predigt mit der Anrede «Verehrte Trauergemeinde», was natürlich ein schlimmer Fauxpas war, von ihm aber nicht bemerkt wurde. Erst nach der Zeremonie, als man zum Apéro vor der blumengeschmückten Kirche stand, wurde er von einem Gottesdienstbesucher auf den Lapsus hingewiesen. Ich habe selten erlebt, dass jemand so nahe daran war, vor Scham im Erdboden zu versinken. Die Ehe hielt übrigens lange.

Ein eindeutig «freud’scher» Versprecher

Bei Live-Sendungen in den elektronischen Medien wird man öfter Zeuge von mehr oder weniger eindeutig «freud’schen» Versprechern. Einer der netteren aus der letzten Zeit passierte einer Moderatorin im ZDF. Sie hatte eine Gesprächsrunde versammelt, zu welcher der damalige Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert gehörte. Also jener Politiker, der mit dem grossmäu­ligen Vorschlag, man könne doch BMW verstaatlichen, für Gesprächsstoff gesorgt hatte. Nun stellte ihn die wackere Maybrit Illner aber fataler­weise als «Kevin Kleinert» vor, was insofern bezeichnend war, als dieser forsche Jungpolitiker tatsächlich eher kurz gewachsen ist. Kühnert nahm es äusserlich gelassen.

Und wenn wir schon bei den unwillkürlichen Pannen des Alltagslebens sind: Zu diesen gehört neben dem Verschreiben und dem Versprechen auch das Verlesen. Es ist weniger spektakulär, zumindest sofern es sich im Privaten abspielt und nicht ans Licht der Öffentlichkeit dringt. Wahrscheinlich tun wir es öfter, wenn wir Zeitung oder ein Buch lesen, korrigieren es aber automatisch, bevor es uns bewusst wird. Das vielleicht schönste Beispiel von unfreiwilligem Verlesen beschrieb der Physiker, Mathematiker und geistreiche Literat Georg Christoph Lichtenberg vor rund 250 Jahren: «Er las immer ‹Agamemnon› statt ‹angenommen›, so sehr hatte er den Homer gelesen.»

Sigfried Schibli ist Musikkritiker und Publizist, Hobbymusiker, Grossvater und Querbeet-Leser. Er nutzt seine Zeit für die Erholung vom Nachdenken.

Mehr zum Thema