Leitartikel zum Zustand der Medien
Totengräber des Journalismus

Wer sich als Medienschaffender wie jüngst in einem Fall über sexuelle Belästigung das Niveau von Debatten in den sozialen Medien zu eigen macht, arbeitet mit am Untergang seines Berufsstands.

Patrick Marcolli
Patrick Marcolli
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Traditionelle Medien und soziale Medien: ein Gegensatzpaar.

Traditionelle Medien und soziale Medien: ein Gegensatzpaar.

Symbolbild: Mario Heller

Kürzlich bin ich auf Youtube auf ein Filmchen aus den frühen 1990er-Jahren gestossen. Es zeigt die Medienkonferenz eines Basler Regierungsrats im Rathaus. Er verkündigt seinen Rückzug und am Tisch vor ihm schreiben die Medienschaffenden brav mit.

«Die Medienschaffenden», das waren: Männer mittleren Alters, die für ihre jeweiligen Arbeitgeber – es gab damals in Basel noch mehr Zeitungen als heute, dafür weniger elektronische Kanäle – ihre Texte verfassten. Männer mit unangefochtener Deutungshoheit. Männer mit guten und auch engen Beziehungen zu jenen, über die sie schrieben. Männer, die von dem, was man heute als Lesernähe bezeichnet, nie etwas gehört hatten und auch nichts darüber wissen mussten. Der Journalismus von damals war zumindest in der Grundhaltung und immer mit Ausnahmen selbstbezogen, manchmal selbstgerecht. Das habe ich selbst noch auf Redaktionen erleben können.

Journalisten als Schreibroboter

Ab den 2000er-Jahren machten der mediale Wandel und die damit verbundenen materiellen Einbussen dieser Haltung den Garaus. Das Konzept von Public Journalism schien kurze Zeit die Rettung für Zeitungen. Die Verleger wollten die Leserschaft über Themen bestimmen, manchmal gar selbst schreiben lassen. Der Journalist sollte zum Erfüllungsgehilfen der öffentlichen Meinung, der Frau und des Manns «von der Strasse» degradiert werden. Gescheitert ist diese Idee, weil ihr eine Fehlannahme zugrunde liegt: Wieso sollen Medienkonsumenten für etwas bezahlen, das lediglich widerspiegelt, was sie längst selbst wissen oder zu wissen glauben? Oder anders gesagt: Der Journalist als blosses Echo ist kein Journalist mehr sondern nur noch Transmitter, Schreibroboter. Berichterstatter, wenn es hochkommt.

Das Aufkommen der sozialen Medien beschert diesem Konzept quasi durch die Hintertüre seit ein paar Jahren eine Renaissance. Nun steckt aber kein Verleger mehr hinter diesem Wandel. Sondern es ist zu beobachten, wie Debatten aus den Tiefen der Social Media nach und nach, neben den Portalen, die sich sowieso schon unter journalistischem Deckmantel der Bewirtschaftung von Communities verschrieben haben, auch die sogenannten traditionellen Medien beeinflussen, manchmal durchdringen. Damit verbunden ist vielerorts ein Paradigmenwechsel: Journalistinnen und Journalisten verstehen sich als aktiven Teil eines grossen Ganzen, als Teil einer Debattenkultur, die sich ausserhalb ihres eigentlichen Mediums abspielt und die sie genau dort mit ihren Einwürfen prägen möchten.

Daran ist im Prinzip nichts auszusetzen. Als Journalist hat man auch in analogen Zeiten nicht gänzlich abgeschnitten vom Rest der Welt leben und arbeiten können. Die Gefahr aber, dass man sich heute als aktiver Partizipant in einer Bubble irgendwo ausserhalb seines eigentlichen Wirkungsbereichs verliert und sich gewisser Standards seiner Gilde nicht mehr bewusst wird, ist aber doch wesentlich grösser.

Gepflogenheiten von Social Media im Fernsehen

Der vor rund einer Woche auf Telebasel bekanntgemachte Fall des Chefs eines Lokalanzeigers, der eine Praktikantin sexuell belästigt haben soll, zeigt dies beispielhaft. Der Bericht beziehungsweise das Interview mit der betroffenen Person, die mittlerweile für den Sender arbeitet (!), entsprach eher den Gepflogenheiten von Debatten in den sozialen Medien als den bislang üblichen journalistischen Standards eines traditionellen Mediums. Zum Beispiel betreffend der nach wie vor geltenden Unschuldsvermutung, der zwingenden Möglichkeit zur Stellungnahme durch den Angeschuldigten oder der Frage, wann jemand eine Person des öffentlichen Interesses ist. Richtigerweise hielten sich die meisten Medienprodukte der Region, unter anderem auch diese Zeitung, mit nachgezogenen Artikeln zu diesem Thema zurück. Wenn wie im erwähnten Fernsehbericht auch noch die Arbeitsweise der Justizbehörden ohne relevante Grundlage angeprangert wird, so erhält die Angelegenheit gar eine staatspolitisch problematische Komponente.

Für Journalistinnen und Journalisten wäre es fatal, sich dem Niveau der Debatten in den sozialen Medien (weiter) anzunähern. So schwierig sich das im Alltag gestaltet und so gross der Druck auch sein mag, Geschichten zu liefern und Geschichten möglichst schnell zu liefern: Man sollte nicht zum Totengräber seines eigenen Berufsstands werden.