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Spitäler sind wegen der zunehmenden Sprachenvielfalt gefordert. Der Bedarf an interkulturellen Dolmetschern steigt stetig. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten dafür nicht.
In Marokko kommt die Diagnose Tuberkulose für viele Menschen einem Todesurteil gleich. In der Schweiz hingegen ist die Lungenkrankheit mit Medikamenten heilbar. Es stirbt praktisch niemand mehr daran. Sitzt jetzt aber ein Patient aus Marokko im Arztzimmer, kann ihm die Diagnose Tuberkulose nicht eröffnet werden, als handle es sich um eine harmlose Grippe. Er denkt bei Tuberkulose an den sicheren Tod. «Man muss deshalb behutsam sein, wenn man mit ihm über diese Krankheit spricht», sagt Erich Lustig, der bis zu seiner Pensionierung Ende Juni den Dolmetscherdienst des Kantonsspital Baden (KSB) leitete.
Die Diagnose zu überbringen oder fremdsprachige Patienten aufzuklären, ist die Aufgabe der interkulturellen Dolmetscher. «Sie übersetzen nicht einfach von einer Sprache in die andere», sagt Lustig. «Sie überbrücken das Fremde, das uns oft verunsichert, und schaffen Vertrauen.» Bei Bedarf übersetzen die interkulturellen Dolmetscher direkt vor Ort. Im Notfall, wenn es pressiert, auch über das Telefon mit Lautsprecherfunktion.
Das KSB hat nicht eigene Dolmetscher angestellt, sondern arbeitet mit der Vermittlungsstelle AOZ Medios in Zürich zusammen. Dadurch hat das Spital Zugriff auf eine Liste mit über 240 Personen, die 90 Sprachen beherrschen: «Von A wie Adangbe (Ghana) bis Z wie Zazaca, einer kurdischen Sprache, die in der Türkei gesprochen wird», sagt Mediensprecher Omar Gisler. Letztes Jahr waren Tamil (Sri Lanka) und Tigrinya (Eritrea) die beiden gefragtesten Sprachen am KSB.
Der Bedarf an Dolmetschern und damit auch die Kosten steigen seit Jahren: 2013 betrugen sie 100'000 Franken; drei Jahre später 150'000 Franken. «Die Kosten werden vom KSB getragen», sagt Gisler. Das aktuelle Gesetz erlaubt es Spitälern und anderen Leistungserbringern im Gesundheitswesen nicht, die Kosten für Dolmetschleistungen der Krankenkasse zu belasten oder sie im Rahmen der Fallpauschalen als Leistung abzurechnen.
Die 150'000 Franken verteilen sich am KSB auf gut 1000 Einsatzstunden und es werden mehr: Das KSB rechnet für die Periode 2018 bis 2022 mit 4000 bis 6000 Einsatzstunden, was hochgerechnet Kosten von 600'000 bis 900'000 Franken entspricht. «Zudem ist aufgrund der Migrationsbewegungen eine weitere Zunahme der Sprachenvielfalt zu erwarten», sagt Gisler.
Eine Beobachtung, die auch die Verantwortlichen am Kantonsspital Aarau (KSA) machen: Die Sprachenvielfalt habe von 17 Sprachen im Jahr 2010 auf 37 im Jahr 2016 zugenommen. «Es besteht ein zunehmender Bedarf an Dolmetschern für aussereuropäische Sprachen», sagt Rita Bossart Kouégbé, Fachexpertin Integration am KSA.
Um den steigenden Bedarf zu decken, haben beide Kantonsspitäler im Amtsblatt eine Ausschreibung publiziert. Sie suchen eine externe Anbieterin für interkulturelle Dolmetschleistungen vor Ort für die Jahre 2018 bis 2021. Omar Gisler sagt, das KSB sei mit dem Service von AOZ Medios «sehr zufrieden». Die Ausschreibung erfolge aus Gründen der Transparenz. «Das KSB will allen interessierten Firmen die Möglichkeit bieten, ihre Offerten präsentieren zu können.»
Das KSB verzichtet bewusst darauf, Angehörige übersetzen zu lassen. «Die Erfahrung zeigt, dass vor allem Kinder in schwere Loyalitäts- und Rollenkonflikte geraten können», sagt Lustig. «Sie dürfen deshalb nicht aus Kosten- und vermeintlichen Effizienzgründen zum Übersetzen missbraucht werden.» Zudem würden Partner, Eltern oder Geschwister «willkürlich zensurieren, wenn es darum geht, Rollenmuster zu wahren». Aus diesen Gründen setzt das KSB auf professionelle Dolmetscher. Schaut, dass bei Patientinnen eine Frau übersetzt und bei Patienten, wenn möglich, ein Mann.
Dass sich Arzt und Patient verstehen, ist elementar. Versteht ein Patient das Aufklärungsgespräch vor einem Eingriff nicht, ist das wie eine Aufklärung, die nicht stattgefunden hat. Der Arzt und letztlich das Spital haften. Die Fachgruppe interkulturelles Dolmetschen der «Swiss Hospitals for Equity» schreibt in ihrem Positionspapier, der chancengleiche Zugang zur Gesundheitsversorgung könne ohne adäquate Verständigung nicht gewährleistet werden. «Sprachbarrieren behindern die medizinische Betreuung, erschweren therapeutische Erfolge, beeinträchtigen die Qualität und gefährden die Patientensicherheit.»
Wenn sich Patient und Arzt nicht verstehen, verursache das letztlich sogar Mehrkosten, heisst es im Positionspapier der interkulturellen Dolmetscher weiter. Studien würden zeigen, dass ohne Einsatz von Dolmetschern mehr Untersuchungen gemacht werden und es häufiger zu Komplikationen kommt. Umgekehrt müssen die Patienten weniger lange im Spital bleiben, wenn sie ihren Arzt von Anfang an verstehen.
Erich Lustig vom KSB erzählt noch von einem weiteren Patienten aus Afrika. Dieser lag ohnmächtig auf dem Notfall und erwachte trotz aller medizinischer Massnahmen nicht. «Es dauerte Stunden, bis er wieder zu sich kam», sagt Lustig. Seine Erklärung für die Ohnmacht übersetzte der Dolmetscher mit den Worten: «Meine Seele war noch nicht angekommen.»
Es seien solche Beispiele, die zeigen, dass zwei verschiedene Kulturen Situationen ganz unterschiedlich beurteilen. Für Lustig ist klar: «Da muss man unser übliches Alltagstempo rausnehmen, sonst müssen wir nachträglich mehr Zeit investieren.»
Die Flüchtlinge, die in den letzten Jahren in den Kanton Aargau gekommen sind, stellen Ärzte vor neue Herausforderungen. «Die Vorgeschichte der Patienten ist meist unbekannt, die Krankengeschichte aufzunehmen, ist wegen der Sprachbarriere schwierig», sagt Rita Bossart Kouégbé, Fachexpertin Integration am Kantonsspital Aarau (KSA). Weil Asylsuchende ihre Unterkunft und damit den Hausarzt oft mehrmals wechseln oder verschiedene Ärzte aufsuchen, kann es zu Mehrfachabklärungen kommen. Zusammen mit dem kantonalen Sozialdienst und dem kantonsärztlichen Dienst wurde deshalb das Gesundheitsheft für Asylsuchende realisiert. Die Idee zu dem Projekt wurde in einer KSA-internen Managementweiterbildung entwickelt. Das Heft wird seit Anfang Juni allen neueintreffenden Asylsuchenden abgegeben. Wer schon länger im Aargau ist, hat nachträglich eines erhalten. In mehreren Sprachen werden die Asylsuchenden informiert, das Heft immer mitzunehmen, wenn sie zum Arzt gehen, und dass die darin enthaltenen Informationen vertraulich sind. Die Ärzte finden darin etwa Informationen zu Allergien, Infektionskrankheiten oder verschriebenen Medikamenten. Mit dem Heft sollen ein besseres Termin-Management, weniger Doppelspurigkeiten sowie mehr Zufriedenheit erreicht werden.
Für ein Zwischenfazit sei es noch zu früh, sagt Bossart Kouégbé vom KSA. Im Moment müsse das Heft vor allem noch bekannt gemacht werden.
Auch Omar Gisler, Mediensprecher des Kantonsspital Baden (KSB), sieht im Heft einen vielversprechenden Ansatz, um ineffiziente Abläufe zu verhindern. «Wenn es von den Patienten konsequent mitgebracht wird, dürfte es den Informationsfluss ähnlich verbessern wie beispielsweise der Impfausweis.» Bisher sind aber am KSA und am KSB erst wenige Patienten mit dem Gesundheitsheft aufgetaucht. (NLA)