Knatsch
Der Kanton Aargau und Santésuisse streiten sich um Pflegekosten: Wer schuldet hier wem Millionen?

Knatsch zwischen dem Kanton Aargau und dem Krankenkassendachverband Santésuisse um Pflegekosten bei Heimen und Spitex.

Mathias Küng
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Wer bezahlt künftig, wenn eine Spitex-Mitarbeiterin Pflegematerial anwendet?

Wer bezahlt künftig, wenn eine Spitex-Mitarbeiterin Pflegematerial anwendet?

Pia Neuenschwander

Wer muss für Pflegematerial, das im Heim oder von der Spitex eingesetzt wird, bezahlen? Die Krankenkasse, oder diese sowie die Versicherten und die Gemeinden, die sogenannten Restfinanzierer? Diese Frage wird seit zwei Gerichtsurteilen heftig diskutiert. Der Bund hat inzwischen einen Vorschlag ausgearbeitet (vgl. Box unten). Demnach sollen die Kosten zu Lasten der Krankenversicherung gehen, was diese mit 65 Millionen Franken jährlich belastet.

In ihrer Stellungnahme hält die Aargauer Regierung fest, die aktuelle Vergütung von Pflegematerial sei administrativ aufwendig. Insbesondere müsse in jedem Einzelfall die Unterscheidung vorgenommen werden, ob es sich um eine «Selbstanwendung» oder um eine Anwendung durch Pflegefachpersonen («Fremdanwendung») handle. Sie plädiert energisch dafür, dies müsse künftig aus einer Hand finanziert werden. Sie begrüsst die Vorschläge aus Bern.

Sie weist darauf hin, dass die Krankenversicherer vor den Gerichtsurteilen in ihrer Prämienkalkulation für 2018 (seit dann gilt die aktuelle Regelung) die Kosten für das Pflegematerial eingerechnet haben.

Kanton: Von den Versicherern zurückfordern

Bezahlen mussten aber nach dem Urteil die Gemeinden. Dass die überschüssigen Prämien «nun von den Krankenversicherern einbehalten werden, ist unbefriedigend beziehungsweise stossend», kritisiert die Regierung. So habe der Prämienzahler für 2018 zu hohe Kosten getragen. Dies gelte es auszugleichen, fordert sie, und schlägt vor: «Die pragmatischste Lösung wäre, dass die Gemeinden für das Jahr 2018 die zusätzlich übernommenen Kosten bei den Krankenversicherern zurückfordern könnten. Für die Gemeinden im Aargau würde dies für 2018 eine Entlastung von mindestens fünf Millionen Franken bedeuten.»

Santésuisse: Sachlage ist genau umgekehrt

Den Vorschlag, dass die Gemeinden die Kosten, die sie 2018 zusätzlich übernehmen mussten, von den Krankenkassen zurückfordern können sollen, weist Matthias Müller, Sprecher des Krankenkassendachverbandes Santésuisse, vollumfänglich zurück. Die Sachlage verhalte sich genau umgekehrt, sagt er: «Es sind die Krankenversicherer, respektive die Prämienzahler, die Anspruch auf eine Rückvergütung haben.»

Immerhin sei es das Bundesverwaltungsgericht gewesen, das 2017 zum Schluss gekommen sei, dass keine zusätzliche Vergütungspflicht durch die Krankenkassen für Verbrauchsmaterialien besteht, weil diese bereits in den Pauschalen enthalten seien, sagt Müller, und kritisiert: «Der Kanton hat den Heimen trotz des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts explizit empfohlen, keine Rückzahlungen zu leisten. Das ist irritierend und in einem Rechtsstaat wie der Schweiz unüblich. Mit dem Vorschlag des Kantons, der darauf hinausläuft, das Gesetz rückwirkend zu ändern, begibt sich dieser auf rechtsstaatlich bedenkliches Terrain», so Müller.

Zum Vorwurf, 2018 hätten die Versicherten doppelt bezahlt, sagt er, der Bund prüfe jeweils die Prämien und heisse sie gut. Wenn in einem Jahr die Prämieneinnahmen über den Kosten lägen, fliesse der Überschuss in die Reserven. Müller: «Es fliesst kein einziger Franken ab. Die Mittel stehen den Prämienzahlern zu.» Im Übrigen hätten auch im Aargau verschiedene Versicherer Prämienrückzahlungen an die Versicherten geleistet: «Dazu gehören die Sympany und die Concordia, die im Aargau weit verbreitet sind.» Müller hofft allerdings nach wie vor auf eine einvernehmliche Lösung. «Die Türe steht bei uns weiterhin offen, um die Punkte aus der Vergangenheit gemeinsam zu bereinigen.»

Gesundheitsdepartement verteidigt Kantonssicht

Eine Rückforderung der von den Krankenkassen bezahlten Kosten für Mittel und Gegenstände bei den Pflegeheimen müsste einhergehen mit einer rückwirkenden Erhöhung der Krankenkassen-Tarife, antwortet Barbara Hürlimann, Leiterin der Abteilung Gesundheit im kantonalen Gesundheitsdepartement.

Aufgrund des Leiturteils von 2017 profitieren die Krankenversicherer, da sie seit 2018 nicht mehr für Mittel und Gegenstände bei der Pflegeanwendung aufkommen.

(Quelle: Barbara Hürlimann, Leiterin Abteilung Gesundheit)

Bei der Einführung der neuen Pflegefinanzierung im 2011 seien die Kosten für Mittel und Gegenstände nämlich fälschlicherweise bei der Festlegung der Pflegekosten nicht einbezogen worden, so Hürlimann. Nun den Gemeinden rückwirkend und unerwartet die alleinige Finanzierung der Kosten für die Mittel und Gegenstände bei den Pflegeheimen der Jahre 2015 und 2017 aufzubürden, sei «unangebracht». Viele Versicherer wie, CSS oder Helsana, hätten denn auch auf Rückforderungen verzichtet. Im Leiturteil von 2017 finde sich keine Aussage dazu, wie der Zeitraum vor dem September 2017 zu beurteilen sei.

Aufgrund des Leiturteils von 2017 profitierten die Krankenversicherer, sagt Barbara Hürlimann, «da sie seit 2018 nicht mehr für Mittel und Gegenstände bei der Pflegeanwendung aufkommen, sondern die Gemeinden». 2018 seien die Mittel und Gegenstände sogar doppelt über Prämien und Gemeindesteuergelder finanziert worden. Trotzdem habe sich der Kanton zusammen mit der Gemeindeammännervereinigung stark gemacht, dass die Leistungserbringer (Heime, Spitex) diese Kosten ab 2018 übernehmen.

Letztlich geht es um Kosten von 65 Millionen Franken

Seit 2011 werden die Leistungen bei einem Pflegeheimaufenthalt oder ambulanter Pflege (Spitex) von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP), der versicherten Person und – im Aargau – von den Gemeinden, übernommen. Die Gemeinden stehen für die sogenannte Restfinanzierung gerade. Die OKP bezahlt einen festgelegten Beitrag je nach Pflegebedarf, die versicherte Person übernimmt maximal 20 Prozent des höchsten vom Bundesrat festgesetzten Beitrages.

Allerdings wurden die Bestimmungen über die Vergütung des von den Pflegefachpersonen verwendeten Pflegematerials unterschiedlich interpretiert. Aus Sicht der Krankenversicherer war dieses Material Bestandteil der Pflege und durfte ihnen nicht zusätzlich verrechnet werden. Die Leistungserbringer hingegen hielten eine separate Verrechnung für möglich.

2017 gab es dazu zwei Urteile des Bundesverwaltungsgerichts. Demnach müssen Krankenkassen Pflegematerial in Heimen heute nicht separat vergüten. Die Kosten bleiben deshalb seit 2018 an Pflegeheimen, Spitexorganisationen, Kassen und letztlich an den Gemeinden hängen. Diese Situation ist für alle unbefriedigend und kompliziert. Deshalb hat der Bundesrat eine Gesetzesänderung in die Vernehmlassung gegeben. Es soll nicht mehr unterschieden werden, ob material selbst- oder fremdverabreicht wird. Die Kosten von gesamtschweizerisch rund 65 Millionen Franken sollen zu Lasten der Krankenkassen gehen. (mku)