Laufenburg
Schriftsteller Christian Haller im Interview – der letzte Teil: «Für Süchte bin ich anfällig»

Der renommierte Schriftsteller Christian Haller wird am nächsten Mittwoch 75 Jahre alt. Hier lesen Sie den dritten und letzten Teil des Interview in 75 Stichworten.

Thomas Wehrli
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«Ich muss ‹behütet› durch den Tag»: Christian Haller am Rhein in Laufenburg.

«Ich muss ‹behütet› durch den Tag»: Christian Haller am Rhein in Laufenburg.

Sandra Ardizzone

«Hoffnung.» Christian Haller wiederholt Stichwort Nummer 51, verstummt kurz, blickt durch das Fenster der Laube im zweiten Stock seines Altstadthauses. Unter uns fliesst der Rhein. Ruhig und gemächlich.

Ich muss schmunzeln, wie ich das Bild auf unser Gespräch zu adaptieren versuche. Mit der Trägheit des Rheins hat das Gespräch nicht viel gemein; es erinnert mich mehr an ein Bergbächlein: Mit viel Kraft fliesst es zu Tal, manchmal erscheint es etwas ungestüm, manchmal nimmt es unvorhergesehene Wendungen.

51 Hoffnung.

Ein Wort, das auch Ausdruck der eigenen Machtlosigkeit ist. Man ist dem noch Unbestimmten unterworfen und dem Wunsch, es möge sich vom Drohenden hin «zum Guten» wenden. Für uns Menschen hoffe ich, dass es uns gelingt, die Aggressionen, Diffamierungen und Ängste vor dem Fremden zu bändigen. Wir leben in einer Zeit, in der sich zerstörerische Kräfte ausleben möchten.

52 Wort.

Damit habe ich mein Leben lang gearbeitet, mich mit ihm auseinandergesetzt. Und ich habe die Skepsis dem Wort gegenüber behalten. Das Wort ist etwas Zwiespältiges, Mehrdeutiges. «Der Name, den man nennen kann, ist nicht der ewige Name.» Diese Anfangszeile von Laotse hat mich immer begleitet und hat meinen Sprachskeptizismus wachgehalten.

53 Mein bestes Buch.

Ach, das ist schwer zu sagen. Ein Buch, das mir sehr viel bedeutet, ist der Roman «Der seltsame Fremde». Und mir wichtig ist das eben erschienene Epos «Reise im Korbstuhl». Gerade auch, weil diese Reise eine literarische Form gefunden hat, die heute kaum noch existiert. Wer schreibt heute noch ein Epos! Dazu in Jamben, einer Versform also, die kaum mehr jemand kennt. Die Reise geht von der Renaissance durch die Neuzeit, endet in der Welt der Quanten, eine Reise durch sich wandelnde Weltbilder. Ein Unterfangen, an dem ich lange gearbeitet habe und das nun als Buch erscheint.

54 Lieblingsautor.

Es gab viele Autoren, die mich beeinflusst haben. Sie waren und sind Begleiter während eines Teils meines Weges. Meine Bibliothek ist ja auch eine Seelengeschichte in Büchern, eine Ansammlung von Lesemomenten und hat viel mit der eigenen Entwicklung zu tun. Gewisse Autoren sind für einen bestimmten Lebensabschnitt wichtig, andere lebenslang: die «Säulenheiligen», wie etwa Dante, Tolstoi oder Tschechow.

55 E-Book.

Eine neue Form der schriftlichen Vermittlung, die durchaus ihre Vorteile, ihre Bequemlichkeit hat. Man kann eine ganze Bibliothek mit sich herumtragen, ohne einen Koffer bei sich zu haben. Aber sie hat auch ihre Problematik: E-Books sind nicht dauerhaft. Ich selber lese zwar auch E-Books, aber ich bin mir sicher, dass sie die gedruckten Bücher nicht verdrängen werden. Denn das Lesen beschränkt sich nicht nur auf das Sehen der Worte, auch das Blättern und Seite wenden, ist Teil des Lesevorgangs.

56 Stecknadeln.

Etwas sehr Nützliches, das ich bei einem meiner Bücher, «Die Stecknadeln des Herrn Nabokov», in den Titel gesteckt habe. Es sind kurze, erzählende Betrachtungen, die einen essayistischen Einschlag haben.

57 Lesen.

Ich habe immer gelesen, seit ich es in der Schule gelernt hatte. Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht lese. Lesen ist für mich ein Grundbedürfnis und meistens auch ein Vergnügen.

58 Schreibstau.

Ich weiss von anderen Autoren, dass sie manchmal monatelang keinen Satz schreiben können, dass die Worte nicht mehr aufs Papier wollen. Das hat es bei mir, zum Glück, nie gegeben. Selbst bei schweren Enttäuschungen nicht. Natürlich gibt es Tage, die unfruchtbar sind, gibt es Hemmnisse. Doch das gehört zum Prozess des Schreibens. Doch muss ich sehr darauf achten, die innere Konzentration in Bezug auf das entstehende Werk zu bewahren.

59 Loslassen.

Ein Werk muss man von dem Moment an, in dem es in den Druck geht, loslassen. Es entgleitet mir, entzieht sich auch der Deutungshoheit, die ich bis dahin hatte. Das Loslassen ist ein Prozess, der Zeit braucht, der aber auch zu einem Abschluss führt. Das Werk ist dann für mich auch innerlich abgeschlossen.

Christian Haller am Rhein in Laufenburg.    

Christian Haller am Rhein in Laufenburg.    

Sandra Ardizzone

60 Schicksal.

Der Begriff «Schicksal» ist heute für viele obsolet geworden. Man glaubt nicht mehr, dass es ein Schicksal gibt oder dass man ein Schicksal hat, da wir doch alles selbst entscheiden wollen. Ich selber spürte in meinem Leben jedoch eine Bestimmung, der ich folgen musste, und die oft entschied, wie ich zu handeln hatte.

61 Zufall.

Er regiert die Welt, von der Biologie bis hin zur Physik. Er hat auch etwas Positives, indem er unsere Welt aus dem Determinismus herausführt, in eine offene Welt, die nicht auf einen Zweck oder ein finales Ziel hin ausgerichtet ist.

62 Fasten.

Aus religiösen oder gesundheitlichen Gründen habe ich nie gefastet, ich war so mager, dass ich zusehen musste, nicht untergewichtig zu werden. Es gibt aber eine andere Form von Fasten, der ich durchaus gefolgt bin. Diese Form zeigte sich mir in der zurückhaltenden Dosierung beim Schreibvorgang: Mach nicht zu viele Wörter auf einmal.

63 Festen.

Etwas Wunderbares! Wenn es gelingt, und ich hoffe, das wird bei meinem Geburtstagsfest im Künstlerhaus Boswil so sein: ein Erleben gemeinsamer Freude, des Zusammenseins und der Verbundenheit von Menschen. Ein Einklang stellt sich ein, der jedermann spüren lässt, ja es ist gut, da zu sein, zu leben und Mitmenschen um sich zu haben, die schätzen, was einem selbst wichtig ist. Wenn ein Fest Gemeinschaft erzeugt, Gemeinschaft lebt, dann ist es etwas Einzigartiges.

64 Familienfest.

Familienfeste mochte ich als Kind nicht besonders, da sie aus den Gegensätzen heraus, die unsere Familie prägten, nie besonders fröhlich waren. Als Erwachsener gab es sie nicht mehr, da ich keine Familie im engeren Sinn hatte und keinen Kontakt zur entfernteren Verwandten pflegte.

65 Reisen.

Lange Zeit vermied ich es, zu reisen. Schon kurze Reisen waren von vegetativen Störungen und Übelkeit begleitet. Durch meine Arbeit als Dramaturg kam ich dann aber doch weit in der Welt herum, und später führten mich meine Lesereisen in die USA oder nach Indien. Jetzt gerade habe ich eine Einladung nach Kolumbien. Sie liegt mir etwas auf dem Magen. Reisen führen zu wunderbaren Begegnungen, zu Einsichten in andere Lebensweisen, zur Anschauung fremder Landschaften, doch bergen sie für mich immer auch die Gefahr der nervlichen Überlastung.

66 Selbst-Begegnung.

Wir begegnen uns täglich selber, sehen zu, wie wir handeln, was wir verbockt oder gerade noch hingekriegt haben, glauben daher, zu wissen, wer wir sind und was aus uns werden wird, und finden uns hie und da ziemlich mühsam. Auch wenn wir hie und da nicht besonders darauf erpicht sind, wir begegnen uns, auch wenn wir lieber wegsehen möchten.

67 Seele.

Ach, diese alte Luftgestalt! Sie ist ein Konstrukt, das wir bilden, um etwas zu erklären, was sonst unerklärlich bleibt. Wir brauchen Wörter, um zu verstehen, trennen die Seele vom Körper, vom Geist, wissen aber selber nicht so recht, ob nicht alle drei – Körper, Seele und Geist – untrennbar ineinander wirken. Und heute erleben wir, dass durch die Forschungen der Hirnphysiologie ein neues Vokabular entsteht, das Altes neu und anders zu erklären versucht.

68 Gewohnheit.

Eigentlich etwas Fragwürdiges, da sie die Unmittelbarkeit verstellt. Und trotzdem: Ohne Gewohnheit wären wir ständig überfordert. Gewohnheiten sind ein Hilfsmittel in unserem Leben; man kann Tätigkeiten ausführen, ohne sie nochmals durchdenken zu müssen. Die Erleichterung ist notwendig, verstellt aber gleichzeitig das unmittelbare Erleben. Werden Gewohnheiten übermächtig, dann findet keine Unmittelbarkeit mehr statt, man gerät in die tiefen Rillen des Immergleichen, die sich tiefer und tiefer graben, bis man nicht mehr über den Rand der Rille hinausblickt.

69 Selbstkritik.

Es ist wichtig, sich selbst «in die Crisis» zu führen, das heisst zu überprüfen, wie und was man gemacht hat, und sich Rechenschaft ablegen. Man sollte dies mit einer gehörigen Portion Gnadenlosigkeit tun. Doch muss man sich auch vor «Selbstverpfuiung» hüten – wie es mein Lehrmeister nannte –, nämlich sich selbst herabsetzen zu wollen, um sich ganz ungeniert bedauern zu können.

70 Hut.

Ein Kleidungsstück, das ich nicht missen möchte. Ich gehe nie ohne Hut oder Mütze aus, und Menschen die barhäuptig durch den Regen laufen, müssen einen definitiv anderes Kopfempfinden haben als ich. Ich hielte es nicht aus! Ich muss «behütet» durch den Tag.

71 Auto.

Unser Bewegungskörper zweiten Grades, und ich benutze ihn gern. Man hockt bequem in diesem Blechmantel, ist mit Strasse und Verkehr beschäftigt, was aber viel Raum lässt, dass die Gedanken durchs Hirn ziehen können, wie hohe Sommerwolken.

72 Sucht.

Für Süchte bin ich anfällig und gerade deshalb habe ich sie nie aus den Augen gelassen. Sie sind Zwang, Unterjochung, und wenn der Mensch, wie einige Philosophen gesagt haben, durch sein Freisein charakterisiert ist, dann nehmen Süchte uns die Menschlichkeit weg. Kein wünschbares Ziel.

73 Prägende Gestalt.

Ich müsste die Mehrzahl benutzen. Ich hatte das Glück, in meiner Lebenszeit aussergewöhnlichen und klugen Menschen begegnet zu sein. Sie haben mich mehr als beeinflusst, sie haben mich geprägt, und sie haben zu mir gehalten, obwohl ich stets «ein Fremder» im Leben war.

74 Vermächtnis.

Was wissen wir, was heute bleiben wird, in einer Gesellschaft des raschen Konsums? Was ich von meinem Leben zurücklasse, ist mein Werk, sind meine Bücher, in denen erzählt wird, was einmal war und nicht mehr ist, und die sich mit all den Fragen auseinandersetzen, die immer neu wieder gestellt werden und nie ganz zu beantworten sind.

75 Der letzte Satz.

Er ist nicht geschrieben, er ist nicht gesagt.

Geschafft – die 75 Stichworte und wir auch etwas. Wir bleiben beide noch einen kurzen Moment sitzen, unterhalten uns über dieses und jenes. Dann geht jeder, Treppenstufe um Treppenstufe, zurück in die je eigene Welt.

Mailverkehr. Wir bereinigen das Interview. Worte zu den Worten. «Da hatten wir uns aber ein mächtiges Stück vorgenommen», schreibt Christian Haller am Freitag nach der Bereinigung von Teil 3. «Ein – wie ich hoffe – aussergewöhnliches Stück.»