Fricktal
Alltag im Gesundheitszentrum: Die Wut zulassen – dem Patienten Zeit geben

Wut und Trauer gehören im Gesundheitszentrum zum Alltag. Wie gehen Ärzte und Pfleger damit um?

Thomas Wehrli
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Thomas Wehrli

Es kann jeden treffen. Jederzeit. Die Diagnose: Es gibt keine Heilung mehr; die Zeit ist absehbar.

Schockzustand. Verzweiflung. Wut. Stille. Starre. Aufschrei. «Jeder Mensch reagiert auf eine solche Diagnose anders», sagt Susanne Christen, Chefärztin Medizinische Klinik Rheinfelden am Gesundheitszentrum Fricktal (GZF). Damit umgehen zu können, richtig zu interagieren, sei als Arzt zentral. «Eine gute Kommunikation mit dem Patienten gehört zum Grundrüstzeug jedes Arztes», sagt sie.

Für Christen, die selber sieben Jahre lang auf der Stammzellentransplantationsabteilung des Unispitals Basel gearbeitet hat und da tagtäglich mit Hoffnung und Hoffnungslosigkeit konfrontiert war, hat die kommunikative Schulung ihrer Assistenzärzte denn auch einen hohen Stellenwert. Sie ist froh: «Bereits im Studium wird heute grosser Wert auf Kommunikation gelegt.»

Wichtig sei, so Christen, dass der Patient in einem solchen Moment aufgefangen werde, dass er nicht allein sei. «Wenn immer möglich schauen wir, dass eine nahestehende Person beim Gespräch dabei ist.» Sie kann helfen, das Unfassbare zu tragen.

Anrecht, alles zu erfahren

Eine klare und offene Kommunikation hält die Cheärztin für das A und O einer guten Arzt-Patienten-Beziehung. «Der Patient hat ein Anrecht darauf, alles zu erfahren.» Welche Therapiemöglichkeiten es gibt, wie die Chancen stehen oder, auch das gehört dazu, «dass wir keinen Pfeiler mehr im Köcher haben». Um den heissen Brei reden, gehe nicht.

«Wir sind es dem Patienten schuldig, ihm zu sagen, wie seine Chance stehen und dass seine Zeit begrenzt ist», findet auch Rahel Breisacher, Leiterin Pflege und Ökonomie am GZF. Wie begrenzt, das drückt Christen in Wochen, Monaten oder Jahren aus. Auf eine genauere Quantifizierung verzichtet sie bewusst. «Das wäre unseriös.»

Wie viel Christen in einem ersten Gespräch sagt, hängt stark von der Reaktion des Patienten ab. «Viele reagieren mit Wut», weiss Breisacher. Eine mehr als verständliche Reaktion, denn das Leben des Betroffenen ändert sich von einem Moment auf den anderen radikal. Die Wut zulassen, dem Patienten die Zeit geben, die er braucht, um sich mit der Diagnose auseinanderzusetzen, ist das Rezept von Christen. Und: Ruhe bewahren, auch wenn der Patient aufbraust oder ausfällig wird. «Wir wissen ja, dass er die Worte nicht persönlich meint», sagt Breisacher. Sie sind Ausdruck seines Schocks, seiner Verzweiflung, seiner Sprachlosigkeit.

Dass es nicht immer leicht ist, diese Wut als Gegenüber auszuhalten, räumt Christen ein. Bislang sei es ihr aber immer gelungen. Eine Grenze wäre für sie erreicht, wenn es zu einer Fremdgefährdung käme. «Das war noch nie der Fall», sagt Christen. «Der Mensch hat auch in der Wut eine Selbstregulation.»

Sich Zeit nehmen. Das ist im hektischen Spitalalltag, der nach Taxpunkten durchgetaktet ist, nicht selbstverständlich. «Aber extrem wichtig», findet Breisacher. «Zeit spielt für mich bei einem solchen Gespräch keine Rolle», sagt Christen. «Ich gebe den Menschen die Zeit, die sie brauchen.» Oder wie es Breisacher formuliert: «Die Zeit steht in einem solchen Moment wie still.»

Auf die Wut folgt Stille

Auf die Wut folgt nicht selten absolute Stille. «Schweigen heisst, es braucht Raum und Zeit», sagt Breisacher. Dies zu geben, ist für Breisacher selbstverständlich. Schwieriger ist es, wenn sich der Patient in sich zurückzieht, sich abkapselt und die Worte an ihm abzuprallen scheinen. «Die ganz stillen Patienten sind fast die Schwierigsten», sagt Christen.

Der Dialog wird so zu einem Monolog. «Ich schreibe dem Patienten dann wichtige Stichworte auf, damit er sie zu Hause aufnehmen kann.» Christen beschränkt sich in einer solchen Situation bewusst auf wenige Worte, denn eine Studie zeigt: Ein Patient, der eine Schockdiagnose bekommt, kann sich nach dem Gespräch nur gerade an sieben Worte erinnern.

Das Danach. Manche Patienten bleiben still, andere hinterfragen das Gesagte, üben auch Kritik. «Diese Patienten sind mir am liebsten», sagt Christen. Sie lacht, wie sie den erstaunten Blick des Journalisten sieht. «Hat man einen solchen Patienten erst auf seine Seite gezogen, wird daraus die tollste Arzt-Patient-Beziehung.»

Das heisst aber auch: Es entsteht eine gewisse Nähe. «Es gibt schon Fälle, die ich mit nach Hause nehme», sagt Christen. Es gelinge ihr aber gut, die nötige Distanz zu wahren. «Ohne die zu wahren, könnte ich den Beruf nicht machen.» Das Rezept, wie dieses Distanz-Nähe-Paradigma gelingt, ist von Arzt zu Arzt verschieden. «Ich schütze mich, indem ich nie an eine Beerdigung eines Patienten gehe.»

Eine gewisse Nähe baut auch das Pflegepersonal zu den Patienten auf. Gerade wenn dann in kurzer Zeit mehrere Menschen in der gleichen Abteilung sterben, belastet dies das Team stark. Noch mehr, wenn es sich um junge Menschen handelt, wo die Frage nach dem Sinn zur Qual wird. In solchen Situationen zieht das GZF oft Spitalseelsorgerin Monika Lauper für eine Aufarbeitung bei. Sie sei, für Patienten wie Personal, «ein grosser Gewinn», attestiert ihr Breisacher. Die Spitalseelsorge werde sehr gut genutzt.

Der letzte Weg

Den Kampf um das Leben führen Arzt, Pflegeteam und Patient gemeinsam. Als Team. Manchmal gewinnt es den Kampf, manchmal verzögert es das Spiel, allzu oft geht es jedoch verloren. «Wichtig ist, dass man dies nicht als Versagen wertet», sagt Christen. «Wenn wir einem Menschen helfen können, ein gutes Ende zu haben, dann ist das oft das Maximum, was wir tun können, dann ist das auch schon ein grosses Ziel.»

Dazu gehört ein sensibler Umgang des Personals mit dem Sterben. Ein Leitfaden hilft dabei. «Viele Patienten haben beispielsweise Angst, dass sie beim Sterben unter Atemnot leiden», sagt Breisacher. Den Patienten diese Angst zu nehmen, sei zentral. «Wir können die Krankheit zwar oft nicht heilen, aber wir können viel tun, damit der letzte Weg nicht so schwer fällt.»