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An Corona gestorben: Pflege-Pionierin Liliane Juchli erlebte ein Kindheit in Armut – aber hatte stets Heimweh nach Nussbaumen

Die verstorbene Pflegepionierin Liliane Juchli wuchs in Nussbaumen auf und erhielt vor sechs Jahren die Ehrenbürgerwürde der Gemeinde Obersiggenthal. Ihrem Heimatdorf blieb sie stets verbunden. An ihre Kindheit hatte sie bleibende Erinnerungen.

Philipp Zimmermann
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Schwester Liliane im April 2014, als sie die Ehrenbürgerschaft von Obersiggenthal erhalten hat.

Schwester Liliane im April 2014, als sie die Ehrenbürgerschaft von Obersiggenthal erhalten hat.

Samuel Schumacher

Liliane Juchli ist am Montag friedlich eingeschlafen. Sie erlag dem Coronavirus im Alter von 87 Jahren. Juchli ist eine der grossen Pionierinnen der deutschsprachigen professionellen Pflege. International bekannt wurde sie als Autorin des ersten deutschsprachigen Lehrbuchs für die professionelle Pflege, das 1971 in der ersten Auflage erschien. «Die Juchli» wird es genannt wird. Es gilt nach wie vor als Standardwerk.

Liliane Juchli kam am 19. Oktober 1933 in einer Stube in Nussbaumen zur Welt. Klara Ida respektive «Klärli» nennt die Mutter sie. Der Vater kam wegen der Geburt nicht extra nach Hause, es war ja kein Bub. Die Badener Historikerin Ruth Wiederkehr hat ihr in den erst kürzlich erschienenen «Badener Neujahrsblättern 2021» einen lesenswerten Beitrag gewidmet: «Von der Eingebung beim Klösterli – Pflegepionierin Sr. Liliane Juchli über ihre Kindheits- und Jugendjahre.» Im Text kommt Juchli selbst mit Zitaten immer wieder zu Wort und erzählt einige eindrückliche Anekdoten über ihre Kindheit.

Auch die Kinder müssen Geld verdienen

Das Elternhaus steht heute noch. Auch wenn sich die Adresse geändert hat, von der Talackerstrasse 422 zur Haldenstrasse 5. Ihr jüngerer Bruder wohnte mit seiner Frau noch bis 2019 dort. Juchli wuchs in armen Verhältnissen auf. Die Weltwirtschaftskrise hinterliess auch in der Region Baden ihre Spuren. Juchli: «Im Dorf gab es alles, was es zum Leben brauchte: einen Konsum, einen Mercerie-Laden mit allen möglichen Fadensachen, einen Küfer, zwei Bäcker, einen Milchladen und einen Metzger. Geld besassen wir allerdings wenig.» Ihr Vater war Fräser bei der BBC, später Vorarbeiter. Doch während der Krise gab es dort oft keine Arbeit. Er erledigte Gelegenheitsarbeiten, etwa im Steinbruch. Die Mutter erhielt für Näharbeiten einen mickrigen Lohn. Später arrangierte sie für die Tochter einen eine Lehre als Serviertochter, musste den Vertrag aber wegen deren standhafter Weigerung auflösen.

Juchli musste schon in jungen Jahren helfen, «Geld ins Portemonnaie zu bringen», wie sie das ausdrückte. Die Kinder verkauften selbst gepflückte Blumen, aber auch Pilze oder Tannenzapfen, welche die Leute damals zum Heizen verwendeten. Mit dem Wagen, auf dem die Waren geladen waren, ging es in die Stadt Baden.

Das hiess damals von Nussbaumen an die Limmat runter, über den Fluss und auf der anderen Seite im Badener Kappelerhof-Quartier wieder hinauf. Mit dem grösseren Wagen ging es über die schiefe Brücke in Ennetbaden. «Tief eingeprägt» hat sich ihr, wie anstrengend das war. Als sie in der fünften Klasse einen Aufsatz zum Thema «Nussbaumen im Jahr 2000» schreiben musste, notierte sie, dass Nussbaumen dann eine Brücke habe.

In Wiederkehrs Text sagt sie:

Und siehe da: Meine Vision wurde wahr! Seit 2002 gibt es die Siggenthaler Brücke.

Sie und ihre Geschwister hatten bei ihrem Primarlehrer keinen guten Ruf, «weil wir zu den Ärmeren gehörten», erzählt Liliane Juchli. «Deshalb meinte man, wir seien dumm.» Wie sie das Gegenteil bewies, zeigt eine Anekdote: Obwohl ihr der Lehrer die Aufnahmeprüfung für die Bezirksschule verboten hatte, nahm sie eine Mitschülerin mit. Resultat: Sie bestand als Beste.

Trotzdem besuchte sie die Sekundarschule im Dorf. Denn die Familie besass kein Velo, mit dem das Mädchen über Mittag hätte heimfahren können. Zudem sagt sie: «Die Mutter brauchte mich.»

Vier Herren aus Stuttgart

Dass aus Klara Juchli Schwester Liliane wurde, hat mit ihrer Cousine zu tun. Die beiden tauschten ihre Namen, als sie beide ins Kloster eintraten. 1953 begann Juchli ihre Ausbildung als Krankenschwester am Theodosianum in Zürich. Drei Jahre später folgt das Diplom. Sie trat einen Monat später ins Kloster Ingenbohl ein. Sie war nicht nur in der Pflege, sondern auch als Lehrerin tätig. Fachbücher für die Pflege gab es damals noch nicht.

Und so kamen Ende der 60er-Jahre vier Herren von einem Verlag in Stuttgart nach Zürich, weil sie von den Arbeitsheften der Schule am Theodosianum gehört hatten. Sie selbst, so Juchli, war erst "zurückhaltend, als ahnte ich, dass damit ein gehöriges Mass Arbeit auf mich zukommen würde". Damit wurde sie zur international beachteten und erfolgreichen Fachautorin. Ihre «Juchli-Bibel» wurde allein im deutschsprachigen Raum mehr als eine Million Mal verkauft und in mehrere Sprachen übersetzt.

"Ich war sprachlos"

Im Jahr 2014 verlieh die Gemeinde Obersiggenthal Schwester Liliane als erster Person überhaupt das Ehrenbürgerrecht – in Anerkennung ihrer national und international wertvollen Verdienste. Dem "Badener Tagblatt" sagte Juchli im Vorfeld: «Ich war sprachlos, als ich von den Absichten des Obersiggenthaler Gemeinderates erfahren habe. Dass mir das Ehrenbürgerrecht verliehen werden könnte, daran hätte ich nicht im Traum gedacht.»

Eigentlich war sie einst mit dem Wunsch ins Kloster eingetreten, dereinst als Missionarin arbeiten zu können. Daraus wurde zwar nichts. "Statt Entwicklungshilfe in Afrika oder Indien habe ich dann halt mein Leben lang Entwicklungshilfe hier bei uns praktiziert.»

Unter tosendem Applaus überreichte der damalige Obersiggenthaler Gemeindeammann Dieter Martin Schwester Liliane Juchli im Gemeindesaal die Ehrenbürger-Urkunde:

Samuel Schumacher

Dieter Martin sagte: «Sie lebte bis zum Ende ihrer Schulzeit in Nussbaumen und hat noch heute Kontakt mit ehemaligen Schulkollegen. Ihren Bruder, der noch in Nussbaumen wohnt, besucht sie regelmässig.»

Liliane Juchli bestätigt das selbst im Text von Ruth Wiederkehr. So sagt sie dort zum Schluss:

Ja, Nussbaumen! Nach Nussbaumen habe ich noch heute Heimweh. Das Dorf ist meine Heimat.